Was wissen wir?

Was wissen wir?

Die Wissenschaft und das Leben

Einst hat uns die Religion gesagt, was wahr ist. Der moderne Mensch hat, so glaubt er, Gott abgeschafft und erwartet nun von der Wissenschaft, dass sie ihm die Wahrheit mitteilt oder ihm wenigstens klare Leitlinien für sein Handeln gibt. Nun zeigt uns aber unter anderem Corona, dass die Wissenschaft nichts weiß. Wenn man alles, was Wissenschaftler zur gegenwärtigen Krise sagen, musikalisch hörbar machen würde, hätte man eine entsetzliche Kakophonie, und niemand könnte einer solchen Musik lange zuhören, ohne verrückt zu werden.

Wie schauen wir in die Welt, wie sehen wir die anderen und uns selbst, wie sehen wir das Leben und, vor allem, von welchem Standpunkt, aus welcher Perspektive schauen wir? Woher nehmen wir unsere Kriterien für richtig und falsch? In der Coronakrise sehen wir, das eine Perspektive alle anderen dominiert, nämlich die der Wissenschaft. Bei aller Uneinigkeit darüber, was wirklich stimmt, herrscht doch weitest gehende Einigkeit darüber, dass man möglichst viel wissen muss, um einigermaßen richtig zu handeln. Und dieses Wissen, auch darin besteht große Einigkeit, soll die Wissenschaft liefern.

Inhalt:

Die Perspektive der Wissenschaft

Die Grundperspektive, aus der der moderne Mensch auf das Leben, auf die Welt, auf die Natur und auch auf sich selbst schaut, ist der Blick von außen und von oben. Das ist die Perspektive der Naturwissenschaft: die Welt liegt vor uns, sie ist das Objekt, der Betrachter ist das Subjekt. Er beschreibt das, was er dort, außerhalb von ihm selbst, sehen und messen kann. Das nennt man objektiv.

Wir sind hier, die Welt ist dort; wir sind oben, das Leben ist unten

Diese Perspektive ist uns ganz selbstverständlich geworden, auch im gewöhnlichen Alltag jenseits aller Wissenschaft. Wenn wir über die Natur sprechen, sprechen wir über etwas, was außerhalb von uns liegt; wenn wir vom Leben sprechen, tun wir dies in einer inneren Haltung, als würden wir dem Leben gegenüber stehen – dass wir das Leben sind, kommt uns nicht in den Sinn, dass wir Natur sind, noch viel weniger. Wenn wir über uns selbst sprechen oder nachdenken, reden wir wie über jemanden, der außerhalb von uns ist und mit dem wir nichts zu tun haben – das wir dieses Selbst sind, das wir analysieren, bewerten, loben und verurteilen, in gut und schlecht oder Licht und Schatten einteilen, das wir antreiben und von dem wir Leistung oder Verzicht verlangen, und das derjenige, der all dies tut, der über sich spricht und all dies mit sich selbst macht, ebenfalls wir selbst sind, kommt fast niemandem in den Sinn.

Gleichzeitig ist die Perspektive des Gegenüberstehens eine des Darüberstehens: Wir sehen die Welt (auch uns selbst) nicht nur von außen, sondern auch von oben, wir schauen auf sie (uns) herab. Wenn es zum Beispiel darum geht, die Erde zu retten, dann sind diejenigen, die so reden, in ihrer inneren Haltung gegenüber der Erde die Großen, die Darüberstehenden, und die Erde ist wie ein Kind, auf das man achtgeben und das man schützen muss. Und wenn es darum geht, wie man ein gutes Leben haben kann, dann fragen wir nicht das Leben, wir ordnen uns ihm nicht unter, sondern wir stellen uns darüber und sagen ihm, wie es zu sein hat. Wenn es uns Krankheiten und andere Dinge bringt, die uns nicht gefallen, dann muss das bekämpft und, wenn irgend möglich, „ausgerottet“ werden, und den Tod gilt es zu bekämpfen und, das wäre der Gipfel und höchste Triumph des Menschen und seiner Wissenschaft, zu besiegen und abzuschaffen. Anstatt als Ausdruck des Lebens, als eine von Milliarden Formen, in denen es sich gestaltet und ausdrückt, betrachten wir uns als Herren des Lebens. Es hat uns zu dienen.

Das ist die Perspektive der Wissenschaft und auch die Perspektive des modernen Menschen. Sie hat dem Menschen einen Abstand von der Natur – der äußeren wie seiner eigenen, inneren – ermöglicht, der ihn instand setzt, ihr äußeres Funktionieren zu messen und in diesem Sinne zu verstehen und damit für sich nutzbar zu machen. Damit hat sie ihm ungeheure Macht und eine gewisse Unabhängigkeit verliehen – „eine gewisse“, weil wir nicht unabhängig von der Natur sind und es auch nie werden können. Aber wir glauben, sie mit unserem Wissen und seiner Anwendung (der Technik) beherrschen zu können. Aus dieser Perspektive folgt, dass man versucht, alles zu messen, zu kontrollieren und zu manipulieren. Man muss die Welt, die Natur, das Leben und sich selbst „in den Griff bekommen“.

Auch Naturforscher und Naturschützer haben diese Perspektive. Der einzige Unterschied zu denen, die sich um die Natur nicht kümmern, besteht darin, dass sie eine „nachhaltigere“ Sicht haben und somit eine andere Strategie der Naturnutzung verfolgen. Aber auch sie sind nicht mehr in der Natur, erfahren sich nicht mehr selbst als Natur, sondern stehen innerlich darüber. Sie markieren die Vögel und kartieren ihre Routen, um sie zu schützen und zu erhalten. Genauso, wie der chinesische Staat die Routen seiner Bürger aufzeichnet, um sie zu schützen (die Chinesen sehen das mit überwältigender Mehrheit so), und genauso, wie demnächst vielleicht das Robert Koch Institut unser aller Bewegungen per „Tracing App“ aufzeichnet und verfolgt, um uns vor einem Virus zu schützen, über dessen Gefährlichkeit sich die Wissenschaft völlig uneins ist.

Wir stehen der Natur nicht gegenüber, wir sind Natur

Mit Corona / SARS-Cov-2 trifft uns diese in unserem gesamten Denken nach außerhalb verlegte Natur in Gestalt eines ihrer ältesten lebenden Formen, eines Virus, und zeigt uns, dass wir nicht außerhalb stehen. Wären wir, worauf das ganze Wissenschaftsprogramm hinausläuft, tatsächlich schon „KI“, künstliche Intelligenz, Algorithmen oder Maschinen, hätten wir von Corona nichts zu befürchten. Da wir aber – leider? – noch Natur sind, ist es wie bei allen Lebensformen: einige können zusammen existieren, andere nicht; das Leben der einen beruht auf dem Sterben der anderen; die eine ist für die andere die Nahrung und damit potentiell auch der Tod. Corona erinnert uns an unser Natursein und an unsere Sterblichkeit.

Zu diesem Natursein gehört es, dass wir uns vor dem Sterben schützen und die Sterblichkeit zugleich sehen und anerkennen. Beides. Jedes Lebewesen schützt sich vor denen, die es fressen wollen, und zugleich gehört das Gefressen werden oder das Vergehen zu seinem Leben, zu seinem Dasein als natürliches Lebewesen, untrennbar dazu. Wenn wir nicht mehr sterben wollen, können wir nicht mehr leben.

Wie reagieren wir nun auf Corona? Zunächst einmal mit einem natürlich Reflex: Wir wollen uns schützen. Deshalb erfahren Politiker und Regierungen, die dies konsequent tun, große Zustimmung. Sie ist umso größer, je höher die Gefahr eingeschätzt wird, und sie bröckelt in dem Maße, in dem das Gefühl der Bedrohung nachlässt. Entscheidend ist das Gefühl, nicht die tatsächliche Bedrohung. Dieses Gefühl ist, wie alle Gefühle, etwas gänzlich Subjektives und durch Fakten nur wenig zu beeinflussen. Wenn man mit Fakten – egal, ob es wirklich fundierte sind oder nur halb wahre sind – darauf einhämmert, verschließt sich dieses Gefühl, beziehungsweise die Menschen verschließen sich und mauern sich in ihren Gefühlen, was stimmt und was nicht, ein. Daraus entstehen dann Glaubenskriege. Zugleich werden die (angeblichen) Fakten dann wiederum als Grundlage der jeweiligen Meinung und auch als Grundlage der medialen Kommunikation und politischer Entscheidungen verwendet, wobei jeder wiederum die Fakten heranzieht, die am besten in sein Weltbild passen.

Was weiß die Wissenschaft wirklich?

Hier kommt nun wieder die Wissenschaft ins Spiel und die Frage, was wir tatsächlich wissen, was die Wissenschaft leisten kann und was nicht. Kann sie uns sagen, was richtig ist und was nicht? Kann sie mit verbindlicher Autorität sagen, was zu tun ist? Nein, sie kann es nicht. Als die Wissenschaft vor einigen hundert Jahren begann, die vermeintlichen Gewissheiten der Religion zu zerstören und diese nach und nach zu ersetzen, hat man noch längere Zeit geglaubt, sie könnte den Menschen eine ähnliche Heimat, eine ähnliche Orientierung und Lebensrichtlinien geben, wie dies früher die Religion vermochte. Heute ist längst klar, dass sie dies nicht kann – und doch erwarten viele das noch von ihr, und die Medien und jeder Politiker, der Ernst genommen werden will, werden nicht müde, sich auf „die Wissenschaft“ zu berufen. Selbst Fundamentaloppositionelle wie Greta Thunberg rufen dazu auf, der Wissenschaft zu folgen. Nun zeigt uns Corona, dass die Wissenschaft nichts weiß.

Wenn man alles, was Wissenschaftler zur gegenwärtigen Krise sagen, musikalisch hörbar machen würde, hätte man eine entsetzliche Kakophonie, und niemand könnte einer solchen Musik lange zuhören, ohne verrückt zu werden. Damit das nicht geschieht, bedient man sich – dies gilt vor allem für die so genannten „Qualitätsmedien“, die so etwas wie die Agenten oder Priester des modernen Bewusstseins sind – eines einfachen Tricks: Man stellt diejenigen, die der vorherrschenden wissenschaftlichen Ansicht gegenüber skeptisch sind und sich auf andere (ebenfalls wissenschaftliche oder auch aus der praktischen Erfahrung kommende) Fakten berufen, ins Abseits. Sie sind – im Falle von Corona wird dies ganz deutlich, aber es gilt auch bei anderen Themen, wo wissenschaftliche Positionen der modernen Weltsicht widersprechen – „Leugner“ oder gar „Verschwörungstheoretiker“, wenn sie etwa die Validität (Zuverlässigkeit) des Coronatests bezweifeln und darauf hinweisen, dass er wissenschaftlichen Kriterien nicht genügt, die Interpretation der offiziellen Statistiken in Frage stellen und die Tatsache betonen, dass die meisten Toten nicht an COVID-19 gestorben sind, auf die Gefahren vom Impfungen oder die damit verbundenen (gewaltigen) wirtschaftlichen Interessen hinweisen und für die beobachtbaren Erscheinungen insgesamt andere Erklärungen haben.

Natürlich weiß jeder Wissenschaftler unglaublich viel über sein Fachgebiet, aber was davon ist wirkliches Wissen? Jenseits wissenschaftstheoretischer Erörterungen kann man ganz einfach sehen, dass alles so genannte Wissen kein Wissen ist. Jeder Wissenschaftler stützt sich auf anderes Wissen, jedes Wissen beruht auf Grundannahmen, die nicht wissenschaftlich sind, und niemand außerhalb des jeweiligen Faches und dessen jeweiliger Spezialdisziplin kann das „Wissen“ der Spezialisten nachvollziehen. Das gilt schon für Wissenschaftler desselben Fachgebietes, erst recht jedoch für Laien. Niemand kann nachprüfen, ob das, was ein Wissenschaftler sagt, stimmt. Es beruht alles auf Konvention und darauf, dass man der Wissenschaft und ihren Regeln vertraut. Und da alle Wissenschaftler Unterschiedliches, wenn nicht sogar Gegensätzliches sagen, bleibt dem Laien nichts anderes als zu glauben. Damit sind wir bei der Religion. Auch wenn jeder einzelne Wissenschaftler sich dagegen sträubt und verwahrt: insgesamt hat „die Wissenschaft“ die Rolle der Religion eingenommen.

Wir haben mit dem Internet die größte Datenbank aller Zeiten, das gesamte Wissen aller Gelehrten aller Zeiten und aller aktuellen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse steht im Prinzip jedem offen, es bedarf nur einiger weniger Klicks – und was wissen wir tatsächlich? Wer kann unterscheiden, was stimmt und was nicht? Wer weiß, was wahr ist? Welches „wissenschaftliche“ Wissen ist eindeutig, unbestreitbar? Der Virologe Hendrik Streeck hat es in einem Podiumsgespräch in Köln ganz deutlich gesagt: Auch Virologen wissen nicht die Wahrheit über Corona und streiten darüber, und man kann denselben Datensatz ganz unterschiedlich interpretieren. Das heißt nicht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse überflüssig wären, aber es heißt, dass man von der Wissenschaft nicht die Wahrheit erwarten darf. Genau das wird aber von ihr erwartet, von den Medien verbreitet und den meisten Menschen geglaubt.

Wenn es schließlich um die Frage geht, wie man richtig leben soll, was gut und richtig ist, steht man vor der Tatsache, dass einem dies kein einzelner Wissenschaftler und keine Wissenschaft als Ganze sagen kann. Mit anderen Worten: Soviel wir auch insgesamt wie im einzelnen wissen mögen und zu wissen glauben (!), praktisch wissen wir nichts.

Politik ist Handeln im Ungewissen

Corona führt uns das gerade vor. Wer sich ernsthaft mit den – angeblich alle wissenschaftlich begründeten – Aussagen befasst, die es täglich zu lesen gibt und sich dabei auch im Internet umschaut, kann nicht ernsthaft behaupten, dass er weiß, was stimmt. Unser gesamtes Wissen beruht auf Hörensagen und auf Glauben. Zugleich müssen wir – in diesem Fall gilt das besonders für die Politiker – handeln und entscheiden. Es gibt keine wissenschaftlich begründete Politik, das ist eine Unmöglichkeit. Gäbe es das, brauchte man keine Politik und keine Politiker mehr.

Angela Merkels Aussage, ihre Flüchtlingspolitik sei „alternativlos“, war die Absage an die Politik und ist deshalb zu Recht heftig kritisiert worden. Es mag durchaus sein, dass es für sie, gemäß ihrem Weltbild und ihrem Charakter, keine Alternative gab, aber das kann man nicht für die Politik insgesamt sagen. Politik ist keine Physik. Ich will Angela Merkel nichts unterstellen, aber auf dieser Vorstellung von Alternativlosigkeit oder Notwendigkeit gründete der „wissenschaftliche Sozialismus“, der wiederum auf Engels „historischem Materialismus“ basierte. Das war und ist die Legitimationsgrundlage aller kommunistischen Diktaturen: Die Führung ist mithilfe der marxistischen Wissenschaft in der Lage, die objektive Wahrheit zu erkennen und kann daher von sich behaupten, das objektiv Richtige zu tun.

Tatsächlich entscheidet kein Mensch und somit auch kein Politiker aufgrund objektiver Fakten, sondern gemäß seinem jeweiligen Charakter, seiner jeweiligen Persönlichkeit und seinem jeweiligen Glauben an das, was stimmt und was nicht. Alles Handeln geschieht in Unwissenheit und Ungewissheit. Wenn es heißt, dass jemand „nach bestem Wissen und Gewissen“ entscheidet, dann bedeutet das genau dies: dass er nichts weiß und, mit diesem Nichtwissen, ins Ungewisse geht. Das gilt nicht nur für Politiker und nicht nur in Corona-Zeiten. Das gilt immer und für jeden. Wir gehen immer ins Ungewisse, mit jedem Schritt, den wir ins Leben tun. Genau das ist leben: ins Ungewisse gehen. Alles andere wäre kein Leben.

Müssen wir mehr wissen?

Welche Konsequenz ziehen wir aus dieser Tatsache des Nichtwissens? Nehmen wir es als unsere Wirklichkeit? Stehen wir dazu und sagen: Ja, so ist es? Sehen wir, dass wir einen anderen Weg gehen müssen, um in der Wirklichkeit des Lebens anzukommen? Nein. Für das moderne Bewusstsein und alle, die darin ihre geistige Heimat, ihren inneren Standort haben, ist die Sache klar: Wir müssen mehr wissen; wir wissen noch nicht genug; wir müssen intensiver forschen, wir brauchen mehr Fakten, mehr empirische Ergebnisse und vielleicht auch bessere Theorien. Das gilt auch für diejenigen, denen die „Herrschaft der Virologen“ nicht mehr geheuer ist und die (was sicher richtig ist) den Primat der Politik wieder betont sehen wollen. Wir strecken uns weiter nach dem Horizont. Gewiss, wir legen dabei viele Kilometer zurück und glauben daher, das sei Fortschritt, aber was den Horizont betrifft, treten wir auf der Stelle. Dass der Horizont immer der Horizont bleibt und man ihn, so sehr man auch rennt, nie erreicht, sieht niemand.

Je mehr wir wissen, umso besser können wir die Welt beherrschen, umso sicherer und, so wird insinuiert und geglaubt, umso besser wird unser Leben. Ist das wahr? Ist das eine wissenschaftliche, empirisch begründbare Tatsache? Dass unser Leben umso besser wird, je mehr wir wissen? Dass es dann weniger Leid gibt? Mehr Freude, mehr Lebendigkeit, mehr Lust am Leben? Mehr „Lebensqualität“? Weniger Unzufriedenheit, weniger Gier, weniger Langeweile? Bessere Beziehungen, mehr Zufriedenheit, mehr Liebe? Haben die, die alles über Sex wissen, mehr Freude daran als die, die sich einfach auf ihre Lust einlassen und ihr folgen, ohne mehr darüber zu wissen als das, was sie dabei erfahren? Haben Paartherapeuten, die alles über Beziehungen wissen, bessere Beziehungen als unwissende Menschen? Haben wir Heutigen, die wir Tausende Bücher über Liebe, Sex und Beziehung haben und ständig in allen Zeitschriften darüber informiert werden, was richtig ist und wie was funktioniert, glücklichere Ehen und bessere Beziehungen als unsere Eltern und Großeltern? Sind Ärzte, die sehr viel über Krankheit wissen, gesünder als andere? Sind wir heute, in unserer Wissenskultur, die mehr Wissen akkumuliert hat, als ein Mensch je in sich aufnehmen kann, glücklicher als ein Stamm im Regenwald, den dieses Wissen noch nicht berührt hat? Ich erspare mir die Antwort, ich denke, jeder weiß sie – auch ganz ohne Wissenschaft.

Wissenschaft ist Zweifel, nicht Wissen

Die Wissenschaft sucht permanent nach neuem Wissen. Das heißt, sie traut ihrem eigenen Wissen nicht oder, anders gesagt: Sie weiß, dass ihr Wissen gar kein richtiges Wissen ist. Es ist immer nur vorläufig, immer hypothetisch. Wenn Wissenschaft tatsächlich zum Wissen gelangen würde, wäre sie am Ende. Wieso sollte man dann noch mehr wissen wollen? Wer etwas weiß, der weiß. Damit sind die Suche und das Fragen zu Ende. In Wahrheit will Wissenschaft gar nicht wissen, Wissenschaft will (und muss) zweifeln. Das ist ihr Programm, mehr noch: es ist ihre Identität. Daran ist nichts falsch, denn der Zweifel zerstört falsche Gewissheiten, und das kann sehr nützlich sein.

Wissenschaft ist der institutionalisierte Zweifel, aber: Sie bezweifelt sich selbst nicht. Das ist das Problem: da sie sich selbst nicht anschaut und nicht bezweifelt, ist sie zum Glaubenssystem geworden. Vor allem wird sie in der wissenschaftsgläubigen Moderne nicht bezweifelt. Sie ist ein Glaubenssystem, das die Funktion der alten Glaubenssysteme, der Religionen und Mythen, eingenommen hat und, genau wie diese, in einem begrenzten Sinne nützlich und sinnvoll ist, aber weder die Wahrheit beinhaltet noch als Grundlage für ein gutes Leben taugt. Wissenschaft ist lediglich eine bestimmte Perspektive mit bestimmten Regeln, auf die Welt und das Leben zu schauen.

Aus dieser Perspektive beschreibt sie die Welt. Wer aus einer anderen Perspektive schaut, sieht eine andere Welt, und diese ist weder wahrer noch unwahrer als die, die die Wissenschaft beschreibt. Die wissenschaftliche Weltsicht ist ihren Vorgängern lediglich in praktischer Hinsicht überlegen, und zwar haushoch. Sie ist die Erfüllung des biblischen Auftrags, sich die Erde untertan zu machen. Damit ist der Mensch, wie es Yuval Noah Harari in einem Buchtitel (Homo Deus) treffend zum Ausdruck bringt, gottgleich geworden. Er ist jetzt, so glaubt er zumindest, sein eigener Schöpfer. Das ist aber auch nur ein Glaube, denn wenn es stimmte, wäre Corona keine Gefahr. Man kann aber weiter schauen als die Wissenschaft, kann über sie hinaus schauen. Dann kann man auch ihre Grenzen und ihre Gefahren sehen. Die größte Gefahr liegt darin, dass die Wissenschaft nicht nur das Potential, sondern auch eine innere Tendenz zur Selbstzerstörung enthält. Ihrer inneren Logik nach ist sei der Feind des natürlichen Lebens.

Wissenschaft führt in den Tod

Die Wissenschaft verspricht uns das (fast) ewige Leben und bringt uns den Tod – den physischen vielleicht, den geistig-seelischen gewiss. Der physische Tod lauert in den Gefahren der Technik, die sie hervorbringt, und ist allen mehr oder weniger bewusst – oder sagen wir besser: er ist allen bekannt. Von unserem Bewusstsein halten wir dies lieber fern: die Gefahren der Atombombe (die wir schon fast vergessen haben) und der Kernphysik, der Bio- und Gentechnologie, der künstlichen Intelligenz, der Waffentechnologie, der chemischen und biologischen Waffen und Experimente. Über letztere wird ja gerade diskutiert, wobei man im Westen so tut, als lauerten diese Gefahren nur in China und Russland. Bei diesen Gefahren ist der Mensch der Schwachpunkt, er könnte – absichtlich (Krieg, Terrorismus) oder unabsichtlich (menschliches Versagen) – mithilfe dieser Instrumente, die allesamt Resultate der Wissenschaft sind, alles Leben zerstören.

Das ist die Gefahr der physischen Auslöschung des Lebens, und diese Gefahr ist real. Sie zu bannen wird wiederum als Aufgabe der Wissenschaft angesehen. Das heißt: die Wissenschaft kontrolliert die Wissenschaft. Der Schwachpunkt, der menschliche Faktor, muss so weit wie nur irgend möglich zurückgedrängt, wenn möglich eliminiert werden. Dazu dient die Künstliche Intelligenz, das ist ihr eigentlicher Zweck und ihre letztendliche Begründung. Nur mit KI wird das Leben sicher. Der Teufel soll mit Belzebub ausgetrieben werden.

Damit bin ich beim zweiten Punkt: Dieses Programm führt in den sicheren geistigen und seelischen Tod. Im Lockdown konnte es jeder sehen: Wenn man den Tod um jeden Preis verhindern will, steht alles still. Mit anderen Worten: Das Leben stirbt, weil man den Tod ausschalten will. Das ist das Endprodukt der Wissenschaft und ihrer Anwendung, der Technik. Selbst wenn alles erreicht würde, was man sich im Silikon Valley und allen anderen Forschungszentren (sicher auch in China) erträumt, wäre der geistige und seelische Tod gewiss, denn er ist das Endresultat der wissenschaftlichen Logik.

Wenn der so genannte menschliche Faktor ausgeschaltet wird, beispielsweise durch künstliche Intelligenz, ist das Leben kein Leben mehr. Im Begriff „menschlicher Faktor“ ist der Mensch als Risiko definiert, als Risiko für eine rein technisch funktionierende Welt. Wenn dieses Risiko ausgeschaltet wird, wird auch alles Menschliche ausgeschaltet. Das Leben wäre dann ein Maschinenleben.

Leben bedeutet, ins Ungewisse zu gehen

Ich habe oben geschrieben und wiederhole es hier, weil es zentral ist: Wir gehen immer ins Ungewisse, mit jedem Schritt, den wir ins Leben tun. Genau das ist leben: ins Ungewisse gehen. Das beginnt mit der Geburt: sie ist ein Schritt ins Ungewisse, ein Fallen ins Offene. Dort, wo die Frauen noch, wie überall in alten Zeiten, in der Hocke gebären, kann man es genau sehen: Das Kind fällt kopfüber in eine Welt, die es nicht kennt. Diese Welt ist, verglichen mit der Welt, in der das Kind vor der Geburt war, unermesslich groß, offen und völlig unbekannt. Und sie ist voller Risiken, von denen das Kind natürlich nichts weiß. Wüsste es, was auf es zukommt und wie gefährlich das Leben sein kann, würde es sich wahrscheinlich mit aller Macht im Mutterleib festhalten. Kinder sind deshalb so lebendig, weil sie dem Leben – wenn sie noch klein sind – in völliger Offenheit begegnen.

Der nächste große Schritt ist dann die Pubertät. Auch hier wissen der Junge und das Mädchen nicht wirklich, was auf sie zukommt. Sie haben aber – heute viel mehr als früher – viele Informationen darüber, und das macht die Sache nicht leichter, sondern eher schwerer. Sie rennen nämlich jetzt den Bildern nach, mit denen sie vollgestopft werden, den Bildern über Sex und Liebe und all den anderen über das Leben der Erwachsenen, und entfernen sich damit von sich selber und lernen das wirkliche Leben, ihr eigenes Leben, ihre eigene Sexualität und ihre eigene Weise zu lieben, nie kennen. Das vermeintliche Wissen um das, was das Leben ist, versperrt einem den Weg ins tatsächliche Leben. Nur im Nicht-Wissen ist Lebendigkeit. Das hat nichts mit Dummheit, Ignoranz oder Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun. Kein geringerer als Sokrates hat dies erkannt und gelehrt – und ist dafür getötet worden. Jeder Gymnasiast hört davon in der Schule, aber begriffen hat es fast niemand.

Leben ist immer eine Bewegung vom Bekannten ins Unbekannte, von dem, was war, zu etwas, was noch nie war, was gänzlich neu ist. Jedes neugeborene Kind ist ein vollkommen neuer Mensch. Die Wissenschaft ist aber bestrebt, einen alten Menschen aus ihm zu machen, indem sie einen schon existierenden Menschen klont. Bei Tieren ist das ja schon geschehen. Damit stellt man das Leben still. Das entspricht der inneren Logik der Wissenschaft: Ihre Ergebnisse müssen reproduzierbar sein, bei jeder Wiederholung muss dasselbe Ergebnis herauskommen, nur dann ist ein wissenschaftlicher Beweis erbracht.

Das Leben steht dem jedoch entgegen, es widersetzt sich der wissenschaftlichen Forderung nach Wiederholbarkeit – deshalb können alle Geistes- und Sozialwissenschaften diese Forderung nicht erfüllen und gelten nicht als exakte, nicht als „richtige“ Wissenschaften, so sehr sie sich auch darum bemühen. Je mehr sie sich jedoch darum bemühen, umso mehr werden sie (wie die akademische Psychologie) tote Wissenschaften, die mit der Lebendigkeit des Lebens nichts mehr zu tun haben. Daher ist das Leben – die lebendige Bewegung – der natürlich Feind der Wissenschaft. Solange man den Schmetterling nicht tötet und seziert, kann man seine Bestandteile nicht genau untersuchen. Um etwas genau untersuchen zu können, muss es „de-finiert“ (das heißt wörtlich „beendet“, im übertragenen Sinne dann „festgelegt“) werden.

Leben und Wissenschaft stehen sich ihrer inneren Logik gemäß entgegen – das Leben macht die Wissenschaft unmöglich, die Wissenschaft macht das Leben unmöglich. Sie können sich nur dann vertragen, wenn sich die Wissenschaft dem Leben unterordnen würde. Das wird sie aber von sich aus nicht tun, denn dann verlöre sie ihren Status als moderne Religion, verlöre sie ihr Heilsversprechen. Jeder einzelne Wissenschaftler wird wahrscheinlich zugeben, dass Wissenschaft diese Rolle gar nicht einnehmen kann und auch nicht will, wird sagen, ich will nur forschen und kein Erlöser sein. Aber tatsächlich hängt an diesem Heilsversprechen das ganze wissenschaftliche Geschäft. Wir geben nur deshalb so viel Geld dafür aus, weil die Moderne sich davon die – möglichst endgültige – Überwindung der menschlichen Not verspricht. Da sich die Wissenschaft nicht selbst entmachten wird, gibt es nur eine Lösung: Sie muss zusammenbrechen, sie muss an ihr eigenes Ende kommen und dann durchschaut werden als das, was sie ist: ein nützliches Instrument, das Menschen benutzen können, von dem sie sich aber nicht beherrschen lassen dürfen, wenn sie weiter lebendige Menschen bleiben wollen.

Nach innen schauen: Sich selbst im Spiegel sehen

Wenn man das Leben tatsächlich kennen lernen will, muss man es leben und dabei zugleich nach innen schauen. Das Leben ist nämlich nicht irgendwo da draußen, außerhalb von mir, sondern innen. Genauer: Ich bin mein Leben. Ein anderes Leben als dieses „Ich bin“ gibt es nicht, jedenfalls nicht für mich. Sobald dieses „Ich bin“ nicht mehr existiert, ist das Leben für mich erloschen. Nach innen schauen heißt aber nicht, dass ich den Blick einfach von einem äußeren Objekt auf ein inneres Objekt richte. In diesem Fall stände ich, das Bewusstsein, das auf etwas schaut, immer noch draußen. Das Innere ist nicht der Raum der Moleküle oder chemischen Prozesse im Gehirn – das ist auch ein außen. Das wirklich Innere bin ich selbst.

Dieses Innen kann man nicht mit der Wissenschaft entdecken, geschweige denn messen. Man kann es nur erfahren. Wer also wirklich wissen will, was „das Leben“ ist, muss bereit sein, es zu leben. Leben und erfahren kann man es aber nicht bei anderen, erst recht nicht in Büchern oder Filmen, sondern nur bei sich selbst. Damit man es erfährt, muss es einem bewusst sein, muss man das, was geschieht, in einem selbst wie um einen herum, bewusst wahrnehmen. Der Andere ist dazu zwar notwendig, aber er ist nur ein Spiegel, in dem ich mich selbst sehen kann. Er macht es möglich, dass ich mich selbst sehen und erkennen kann. In jeder Begegnung mit anderen begegne ich einem Aspekt von mir selbst. Das gilt für andere Menschen und für das gesamte Leben – alles, was ich in der Welt sehe, ist eine Spiegelung meines Inneren. Man kann auch sagen: meiner Seele.

Nach innen schauen heißt nicht, sich in sich selbst zu versenken. Es heißt nicht, die Augen zu schließen und sich von der Welt abzuwenden. Es heißt, in allem, was einem begegnet, sich selbst zu sehen – auch in dem Corona-Virus, der uns gerade begegnet. Die Methode, die dieses Sehen ermöglicht, ist nicht das Beobachten von außen wie in der Wissenschaft, sondern die Wahrnehmung. Wahrnehmung ist ein innerlicher Vorgang. Man kann es zwar auch „beobachten“ nennen, aber es ist ein passives Beobachten, ein geistiges Sehen, Aufnehmen und Gewahrsein dessen, was geschieht. Man lässt einfach in sein Bewusstsein kommen, was erscheint, ohne etwas zu tun, quasi regungslos. Alle Regungen, alles, was dieses Wahrnehmen in einem auslöst (es löst wahre Stürme in einem aus), nimmt man wiederum nur wahr, ohne etwas zu tun. Reine Wahrnehmung bewertet nichts, verändert nichts und greift in nichts ein – auch nicht in das eigene Handeln. Es lässt geschehen, was geschieht, ohne sich einzumischen.

Während die Wissenschaft auf instrumentelles Wissen ausgerichtet ist, darauf, die Gesetze der Welt oder des Lebens zu entdecken, um dann etwas daraus zu machen, um es anzuwenden und umzusetzen, ist die Wahrnehmung noch nicht einmal an Erkenntnis interessiert. Man kann zwar sehr viele Erkenntnisse dabei gewinnen, aber wenn sie reine Wahrnehmung (Gewahrsein) ist, ist sie völlig absichtslos. In dieser Absichtslosigkeit zeigt sich einem alles. Plötzlich weiß man. Dieses Wissen ist klar und unerschütterlich. Man macht es nicht, strebt es nicht an, sondern es geschieht einfach. Es kann ein Wissen für den Moment sein oder auch eines für die Ewigkeit. Zwischen beidem ist kein Unterschied, Moment und Ewigkeit sind dasselbe. Das kann man nicht erklären – man weiß es, wenn man es erfährt.

Aus diesem inneren Zustand heraus geschieht das Handeln ganz von selbst. Damit ist man im Einklang, denn auch das Leben geschieht ganz von selbst. Es gibt niemanden, der das Leben macht, es zuerst plant und dann umsetzt. Das Leben hat auch kein Ziel, keinen Zweck – es existiert einfach. Genauso der Mensch – auch wir haben kein Ziel und keinen Zweck, auch wir existieren einfach nur. Wir sind ja nur ein winziger Teil oder ein spezieller Ausdruck all dessen, was existiert. Es ist schon sehr verstiegen – um nicht zu sagen: der helle Wahnsinn – zu glauben, all dies beherrschen zu müssen und zu können. Aber so weit wird es nicht kommen. Corona zeigt uns gerade, dass die Natur genügend Möglichkeiten hat, uns in die Suppe zu spucken.

15. September 2020

Copyright: Wilfried Nelles

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