Bert Hellinger, die „Systemaufstellungen“ und ich – eine autobiografische Geschichte

Bert Hellinger, die „Systemaufstellungen“ und ich – eine autobiografische Geschichte

VORBEMERKUNG: Dies ist die Originalfassung eines Artikels, den ich für die Jubiläumsausgabe der „Praxis der Systemaufstellung“ anlässlich ihres 25-jährigen Bestehens (September 2023) geschrieben habe und der dort gekürzt erschienen ist.

Der Wendepunkt

Der Höhepunkt war zugleich der Wendepunkt. Am 3. Mai 2005 widmete die Süddeutsche Zeitung die ganze Seite 3 einem einzigen Thema: Bert Hellinger und dem am nächsten Tag beginnenden 5. Internationalen Kongress für Systemaufstellungen in Köln, den ich gemeinsam mit Heinrich Breuer konzipiert, organisiert und geleitet habe. Am Nachmittag hatte jemand von der Tagesschau angerufen: Sie würden gerne am nächsten Abend in den Tagesthemen einen ausführlichen Bericht über den Kongress senden und ein Filmteam nach Köln schicken: „Dürfen wir filmen?“ Ich hatte nichts dagegen, so dass noch am selben Abend eine Kameracrew und eine junge Journalistin – sie war, wenn ich mich recht erinnere, eine freie Mitarbeiterin, die sich noch ihre Sporen verdienen musste – im Maritim Hotel, wo der Kongress stattfand, anrückte.

Hellinger war auch schon da, und er hatte mir gesagt, dass er eine große Paketsendung erwarte, ich sollte ihm sofort Bescheid sagen, wenn sie eingetroffen sei. Als die Pakete da waren, gingen wir zu dem Stapel und er öffnete eins. Ich wunderte mich: der große Bert Hellinger war, so kam es mir vor, aufgeregt wie ein Schuljunge. Dann nahm er ein rotes Heft im DIN-A-4-Format mit einem weißen Kreuz in der Mitte aus dem Stapel und reichte es mir: Ich las die Überschrift: „HellingerZeit“, groß in weißer Schrift auf einem schwarzen Balken; in der Zeile darunter klein und kursiv am rechten Rand: „schrift“. Seine – genauer gesagt: ihre – neue Zeitschrift. Ich öffnete das Heft, wieder zwei rote Seiten. Auf dem Innenumschlag zwei offene, gebende Hände, in denen eine rote Rosenblüte liegt, darunter in weiß die Worte: „für Dich!“; auf der letzten Innenseite dasselbe Bild, diesmal mit dem Wort „Danke!“; auf der Rückseite ein seitenfüllendes Porträt von Hellinger; auf der dritten, ebenfalls knallroten Seite, in großen Lettern: „Jubiläum. Ich, Bert Hellinger, feiere in diesem Jahr meinen 80. Geburtstag“, und auf Seite 4, ebenfalls noch rot: „Jetzt bin ich wieder da …“ – War er jemals weg, fragte ich mich? Dazwischen auf sehr dickem Papier fünf Seiten mit kurzen Auszügen aus seinen Büchern, zwei Seiten mit einer Art Editorial von ihm über seine Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und die Angriffe gegen ihn, das in keiner Beziehung zum übrigen Inhalt stand, und vier Seiten Werbung für Bücher und Seminare. Ein Esoterik- und Werbe-Magazin.

Ich war schockiert. Hoffentlich kriegt die Presse das nicht in die Finger, war einer meiner ersten Gedanken. Und ich war verlegen. Ich sah Hellingers Stolz und Freude und dachte zugleich: Mein Gott, was soll das denn jetzt? Aber das konnte ich ihm nicht sagen. Ich weiß nicht mehr, was ich dann gesagt habe, ich habe mich irgendwie aus der Affäre gezogen, schließlich hatte ich viel zu tun. Drei Wochen später habe ich Bert und Sophie Hellinger in einem Brief meine Meinung dazu mitgeteilt, ich gebe ihn hier vollständig wieder:

Liebe Sophie, lieber Bert,

zu Eurer Zeitschrift möchte ich Euch eine Rückmeldung geben.

Es ist mir unklar, an wen sie sich wendet, was die Zielgruppe ist. Sind es die Aufsteller, unsere Klienten oder wollt Ihr ganz andere Menschen ansprechen? Soll es eine Alternative zur „Praxis der Systemaufstellung“ sein? Es wäre gut, wenn Ihr deutlich sagt, wo der Platz dieser Zeitschrift im Feld ist.

Formal und inhaltlich halte ich das erste Heft noch nicht für gelungen. Der Gesamteindruck ist fast amateurhaft und wirkt tatsächlich ziemlich esoterisch. Ist das gewollt? Es könnte geeignet sein, viele Vorwürfe, die Dir, Bert, zu Unrecht gemacht wurden (Guru, Sekte, etc.), im Nachhinein als richtig erscheinen zu lassen. Im Einzelnen:

Der Titel: HellingerZeitschrift – was heißt das? Hieße es nur Hellinger-Zeitschrift, hätte ich kein Problem. Aber so, mit der fett gedruckten HellingerZeit (und dem Riesenfoto auf der Rückseite), entsteht tatsächlich der Eindruck eines Personenkultes.

Das Layout finde ich einfach schlecht, wobei ich geschmackliche Fragen (Farbe, Titelblatt, Rosen) beiseitelasse. Mindestens drei ganz und gar verschiedene Schriftstile, dazu häufiger Wechsel von Kursiv, Fett- und Normaldruck ergeben kein klares Bild, sondern eher ein Durcheinander. Auch die Grundschrift ist für eine Zeitschrift nicht gut, besser wäre eine Schrift mit Serifen. Und sie ist auch zu groß und zu fett – es sieht aus, als müsste man damit die Seiten füllen. Auch das dicke Papier passt eher zu einem Prospekt als zu einer Zeitschrift. Dafür kostet sie aber sehr viel Geld. Zum Vergleich: Die Praxis der Systemaufstellungen bietet im Jahr ca. 200 Seiten redaktionellen Text für 24,40 €, Eure Zeitschrift hat auch bei 4 Ausgaben weniger als die Hälfte Text und kostet mehr als das Doppelte.

Der Text enthält viele Zeichensetzungsfehler, hinzukommen Grammatikfehler, vor allem bei der Benutzung des Genitivs. Es fehlt offenbar ein sprachsicherer Redakteur. Das tut besonders weh, weil Du, Bert, doch sonst so überaus sorgfältig mit Sprache umgehst.

Was den Inhalt angeht, so ist manches alt und bereits oft veröffentlicht. Und eines verstehe ich nicht: „Jetzt bin ich wieder da“. Ich habe Dich, Bert, immer als „da“ wahrgenommen, auch als Leitfigur und Lehrer. Vielleicht willst Du das jetzt mit neuen Inhalten und Formen ausfüllen. Wenn Du mehr Präsenz zeigen und Deinen Anteil deutlicher zum Ausdruck bringen möchtest, indem Du zum Beispiel Ausbildungen anbietest, ist das wunderbar. Aber so, wie das hier beschrieben wird, wirkt es, als seiest Du abwesend gewesen oder hättest diese Funktionen bisher nicht ausgefüllt. Für mich hast Du sie auf eine ganz einmalige und passende Weise ausgefüllt. Diese Ausdrucksweise entwertet das Frühere.

Lieber Bert, ich habe die zuerst subtile und dann immer offenere Ausgrenzung wahrgenommen, die in den letzten zwei bis drei Jahren Dir gegenüber in der Aufstellerszene betrieben wurde, und klar dazu Stellung genommen. Das werde ich auch weiter tun. Ich will Dir auch nicht reinreden, welchen Weg Du gehst und wie Du dies machst. Ich teile Dir nur mit, wie die Zeitschrift auf mich wirkt. In meinen Augen hast Du es nicht nötig, für irgend etwas zu kämpfen.

Deine Arbeit und Dein Geist sind immer weiter geworden, aber diese Zeitschrift atmet in Form und Inhalt nicht den Geist der Offenheit, Weite und Tiefe und der Präzision, der Deine Arbeit so auszeichnet. In der gegenwärtigen Form erscheint sie mir fast als das Gegenteil, und ich fürchte, sie führt in die Isolation. Ich habe noch keinen Kollegen getroffen, der nicht mit dem Kopf geschüttelt hätte, und ich habe nur mit solchen gesprochen, die Dir mit Herz und Seele verbunden sind. Falls Du in eine andere Richtung gehen und ein neues Feld neben dem bisherigen Aufstellungsfeld bedienen möchtest, hielte ich es für wichtig, dies deutlicher auszusprechen. Aber auch dann wären formale Verbesserungen dringend geboten.

Diese Einschätzung ändert natürlich nichts an meiner Haltung zu Euch und zur Aufstellungsarbeit. Für mich ist es ein Gebot der Freundschaft und der Achtung, Euch dies mitzuteilen. Wenn Ihr möchtet, können wir in Neuchatel darüber reden, ich bin mit Birgid die ersten beiden Tage dort.

Herzliche Grüße

In Neuchatel / Schweiz hatte Hellinger kurz danach einen Kurs, zu dem ich eingeladen war. Ich traf ihn beim Einchecken im Hotel. Auf meinen Brief hatte ich bis dahin keine Antwort bekommen (ich habe auch später keine bekommen). Als ich aus unserem Auto ausstieg, hatte meine Frau gesagt: „Jetzt wirst Du exkommuniziert.“ Aber Hellinger freute sich einfach, mich zu sehen, und als ich ihn auf den Brief ansprach, meinte er nur: „Was Du geschrieben hast, stimmt ja, aber das war ja nur das erste Heft.“ In den nächsten Tagen merkte ich bei unserem abendlichen Beisammensein, dass er ganz unsicher war und nicht wusste, wo seine Arbeit hingehen sollte. Auf alle Fragen, die ich ihm dazu gestellt habe, hat er nur ausweichend geantwortet – so kannte ich ihn nicht. Erst Jahre danach wurde es mir ganz klar: Die Arbeit von Bert Hellinger war schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die Arbeit von Bert, sondern die von Marie-Sophie Hellinger. Er hatte seine eigene Arbeit aufgegeben und sah seine einzige Aufgabe darin, ihr zu folgen und sie zu unterstützen.

Der Kongress war wunderbar, ein voller Erfolg. Wir hatten rund 1300 Teilnehmer aus aller Welt, großartige Referenten und es herrschte eine Stimmung wie beim ersten Kongress acht Jahre vorher in Wiesloch. Auch Bert Hellinger war mehr als zufrieden – nachdem er vom Würzburger Kongress 2003 frühzeitig abgereist war, war er dieses Mal hoch zufrieden und hat sich bei einem gemeinsamen Abschiedsessen und auch noch mal per Brief aufs Herzlichste bei Heinrich und mir bedankt. Die Leute vom Fernsehen hatte er ausgetrickst. Sie wollten Bilder von Verbeugungen oder Niederknien, um das damalige Narrativ des autoritären Pseudo-Therapeuten bedienen zu können, aber Hellinger hat einfach keine Aufstellung gemacht. Das Publikum wurde unruhig – alle warteten darauf, dass er wie gewohnt zum Auftakt des Kongresses einige Aufstellungen machen würde, aber er redete und redete und redete. In der Pause sagte er zu mir: „Die Fernsehleute wollen mich reinlegen, aber ich werde ihnen den Gefallen nicht tun, ich mache heute keine Aufstellung.“

Die verantwortliche Journalistin war total verzweifelt, sie sollte für die Tagesthemen Bilder liefern, und wenn sie nichts im Kasten hatte, war das ein Desaster für ihre Karriere. Sie hat mich bekniet, ihr irgendwelche Aufnahmen von Aufstellungen zu ermöglichen, aber in den Workshops, wo sie filmen wollte, haben die Teilnehmer nicht mitgemacht. Und es ging nur um die passenden Bilder für eine Story, die schon feststand – am Kongress war das Fernsehen überhaupt nicht interessiert. Sie hätte Interviews mit Hellinger oder mit unseren, teils sehr bekannten und sehr hochkarätigen, Gästen aus den USA, Südafrika, Israel und anderen Ländern, auch bekannten Persönlichkeiten aus Deutschland, machen und sie zu Hellinger oder dem Familienstellen befragen können, aber es ging nur um ein bestimmtes Narrativ und die dazu passenden Bilder. Ich habe damals einiges darüber gelernt, wie Nachrichten gemacht werden.

Abschied und Neubeginn

In dem Jahr nach dem Kongress wurde immer deutlicher, dass Hellinger genau das Gegenteil von dem tat, was er immer über die Mann-Frau-Beziehung als „Ordnung“ verkündet hatte: Er folgte jetzt in allem seiner Frau, und zwar nicht nur im Persönlichen, sondern auch in seiner Arbeit. Ich wollte es lange nicht wahrhaben, aber er traf keine eigenen Entscheidungen mehr – und wenn er doch etwas versprach und es ihr nicht gefiel, wurde es wieder umgestoßen. Das galt sogar für persönliche Verabredungen, die er ohne vorherige Rücksprache getroffen hatte. Als im Frühjahr 2006, wo ich ihn zusammen mit Heinrich Breuer in Taiwan auf der 1. Asienkonferenz getroffen und wir persönlich eine sehr gute Zeit zusammen verbracht hatten, in Deutschland per anonymen Faxen das Gerücht verbreitet wurde, Heinrich Breuer und Wilfried Nelles hätten sich in Taiwan „schändlich“ benommen und Bert „verraten“, habe ich ihn noch einmal zur Rede gestellt und, da er nur ausweichend antwortete, den Kontakt eingestellt. Später ist mir aufgefallen, dass sogar Briefe, die er unterschrieben hatte, wohl nicht von ihm selbst verfasst waren.

Für mich war das eine tiefe Enttäuschung. Das Persönliche interessierte mich dabei nicht. Ich kannte Marie-Sophie schon vor Hellinger, tatsächlich hat sie ihn über mich kennengelernt. Seit 1997 hatte sie in Spanien, wo sie damals mit ihrem Lebensgefährten, einem deutschen Hotelbesitzer, lebte und in einem von dessen Hotels ein Seminarzentrum betrieb, und an ihrem zweiten Wohnsitz in Kössen / Österreich Seminare für mich organisiert. Ich habe mich zwar sehr gewundert, als ich im Jahr 2001 entdeckte, dass Hellinger sich auf eine intime Beziehung mit ihr eingelassen hatte, aber das war nicht meine Sache.

Aber das Familienstellen war meine Sache, und ich hatte mich in den öffentlich ausgetragenen Konflikten zwischen den „Systemikern“ und Hellinger, die in der Zeit zwischen 2000 und 2005 auch oft auf persönlich verletzende Weise gegen Hellinger ausgetragen wurden, immer an seine Seite gestellt, und zwar aus tiefster Überzeugung, weil ich seine phänomenologische Sicht und auch seinen Arbeitsstil, die Wahrhaftigkeit und Kompromisslosigkeit, mit der er seine Wahrnehmung mitteilte, ganz teilte.

Auch unter den Aufstellerkollegen habe ich mir damit nicht viele Freunde gemacht. Vielen ging Hellinger zu weit, war er zu radikal oder „dogmatisch“, und ich galt manchen als dogmatischer Verteidiger des Dogmatikers. Sicher formulierte er oft dogmatisch, aber darin war – fast – immer eine Wahrheit. Abgesehen von seiner unglaublichen therapeutischen Klarsicht: Hellingers Aufrichtigkeit, das Stehen zu sich selbst und seiner Wahrnehmung und die Direktheit seiner Aussagen habe ich geliebt, und ich habe ganz viel davon für meine eigene Arbeit und auch für meine persönliche Entwicklung mitgenommen.

Im Grunde war Hellinger sogar weniger dogmatisch als die meisten seiner Kritiker unter den Aufstellern (die ihre Kritik aber selten offen äußerten – es sei denn, sie trennten und distanzierten sich von ihm, wie z.B. Matthias Varga von Kibed). Sie formulierten zwar glatter und weicher, ließen es aber kaum zu, dass ihr Weltbild durch eine gesehene oder erfahrene Wirklichkeit erschüttert wurde. Hellinger hingegen war immer offen für Neues und für Veränderung. Nur am Rande: In den wenigen Fällen, in denen ich seine Aussagen als „falsch“ angesehen habe, habe ich ihm das mindestens genauso offen mitgeteilt wie in dem oben zitierten Brief, und er hat mir dies nie übelgenommen.

Diese, von Hellinger „phänomenologisch“ genannte, Haltung war meine tiefste Verbindung mit ihm und seiner Arbeit. Die „Ordnungen“ spielten eher eine Nebenrolle, zum Teil hielt ich sie sogar für falsch oder nur eingeschränkt zutreffend. Die „Ordnungen der Liebe“ sind teils einfach nur allgemeine soziale Ordnungen, die mit Liebe nichts zu tun haben, und zum Teil kindliche Ordnungen, die zum Kind und – kollektiv – zum kindlichen Gruppenbewusstsein gehören.1 Hellinger hatte aber, da war er wohl durch seine theologische Sozialisation stark geprägt, keinen Sinn für evolutionäre Prozesse und für die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Ich habe das damals gespürt, aber es hat etwa zehn Jahre gedauert, ehe ich deutlich sehen konnte, dass seine „Ordnungen“ zu einer bestimmten Bewusstseinsstufe, nämlich dem Gruppenbewusstsein, gehören.2

Hellingers phänomenologische Haltung, die Offenheit für den Augenblick, das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, der Mut, dies ohne jede Einschränkung auszusprechen, auch auf die Gefahr hin, total daneben zu liegen – das war das, was mich vom ersten Moment an überzeugte. Darin lag das Geheimnis und die ganze Kraft seiner Arbeit, auch das, was ihn schließlich so berühmt gemacht hat. Und was die Aufstellungsmethode betrifft, wusste ich schon beim Lesen von „Ordnungen der Liebe“ und dann erst recht nach dem eigenen Erleben mit absoluter Sicherheit, dass dies ein geniales Instrument ist.

Aber so genial es ist – es ist eben nur ein Instrument, noch nicht einmal eine richtige Methode. Ich vergleiche es gerne mit der Erfindung der Röntgenstrahlen. Damit konnte man zum ersten Mal direkt in den Körper hineinschauen. Mit den Aufstellungen kann man zum ersten Mal direkt in die Seele schauen – allerdings nicht wie beim Röntgen, denn die Seele ist nichts Gegenständliches wie der Körper, insofern hinkt der Vergleich ein wenig.3 Mir scheint er aber dennoch recht aussagekräftig, denn Aufstellungen können die seelischen Vorgänge im Klienten oder in einer Familie oder einer Kultur spiegeln, Aufstellungen sind für mich ein Spiegel der Seele.

Aber wie ein Röntgenologe etwas von Medizin verstehen muss, um seine Bilder lesen und verstehen zu können und daraus eine passende Therapie abzuleiten, so müsste ein „Aufsteller“ auch etwas von der Seele und von Psychologie verstehen, um dieses Instrument sinnvoll anwenden zu können. Ohne ein tiefes Verständnis seelischer Vorgänge und des menschlichen Bewusstseins ist die Aufstellungsarbeit zwar nicht, wie es Kritiker damals formuliert haben, „Hokuspokus“, aber so etwas wie gehobene Unterhaltung, ein ergreifendes Theater, bei dem emotionale Ergriffenheit mit seelischer Tiefe verwechselt wird.

Bert Hellinger und das „Systemische“

Bert Hellinger verstand etwas von Psychologie, und er verstand sie ganz anders als der damalige Mainstream, auch anders als die Kollegen von der „Systemischen Therapie“, mit denen er im Grunde nichts zu tun hatte. Die Vermischung von Hellingers Arbeit mit systemischer Therapie hat Gunthard Weber „verbrochen“, indem er seinem Buch „Zweierlei Glück“, dem ersten Buch über Hellingers Arbeit, den Untertitel „Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers“ verpasste. Das war, wie Gunthard Weber selbst später gesagt hat, ein Fehler. Er, der selbst aus der systemischen Ecke kam und dort auch sein Leben lang geblieben ist, war begeistert von der Kraft in Hellingers Arbeit und auch beindruckt und berührt von dem, was er dabei über sich selbst erfahren und mitgenommen hat. Er wollte eine Brücke bauen und hat dies auch getan, hat Hellinger damit aber auch in gewisser Weise für die Systemische Therapie zu vereinnahmen versucht, und dies war längst nicht allen Systemikern recht4 – und Hellinger selbst ist nie über diese Brücke gegangen.

Einige systemische Therapeuten waren zwar, wie Weber selbst, von Hellingers Arbeit fasziniert und sahen darin eine Kraft, die ihrer eigenen Arbeit fehlte, aber ganz damit anfreunden konnte sich kaum jemand, und mit der Zeit haben sich die meisten förmlich von Hellinger distanziert.5 Sich wirklich auf Hellingers Ansatz einzulassen hätte nämlich bedeutet, die systemisch-konstruktivistische Heimat verlassen zu müssen, und dazu war keiner bereit – noch nicht einmal Gunthard Weber. Hellinger hatte nämlich mit „Systemen“, der „Systemischen Therapie“ und erst recht der dieser zugrunde liegenden Systemtheorie nichts am Hut. Letztere kannte er so gut wie nicht.

Ich hatte das – nicht sehr große – Vergnügen, mich in meinem Soziologiestudium ausführlich mit der (soziologischen) Systemtheorie befassen zu dürfen, sie war sogar eines meiner Prüfungsthemen bei der Magisterprüfung und auch im Rigorosum. 1973 oder 74 war ich dann live dabei, als sich Niklas Luhmann und Jürgen Habermas auf dem Deutschen Soziologentag über dieses Thema duellierten. Dass mir die Systemtheorie dann mehr als zwanzig Jahre später in der Psychologie begegnen sollte und dort als der letzte Schrei galt, hat mich dann aber sehr verwundert. Dass diese aus der Kybernetik kommende abstrakte Theorie, die mir schon in der Soziologie als etwas rein Technisches begegnet war, etwas zur Heilung verwundeter Seelen oder gar zu innerem, seelischem Wachstum beitragen sollte, fand ich recht abwegig.

Das gilt auch für Hellinger – er hatte damit, wie gesagt, nichts am Hut, er hat sich nie damit befasst. Über die „Systemiker“ hat er einmal zu mir gesagt: „Was die sagen, versteht doch niemand. Die nennen meine Arbeit esoterisch, dabei sind in Wirklichkeit sie die Esoteriker“. Wenn er das Wort „Familiensystem“ gelegentlich benutzte, dann geschah dies in einem alltagssprachlichen Sinne. Allerdings war dies eine Schwäche von Hellinger: Er nahm es manchmal mit Begriffen nicht allzu genau. Aber wer ihm zuschaute oder seine Bücher las, konnte genau sehen: Hellinger ging es immer um die Seele. Und das ist, ebenso wie der „Geist“, kein systemischer Begriff. Zwar kann man eine Familie als ein System betrachten, aber dann ist es keine Familie, keine natürlich gewachsene und weiterwachsende Gemeinschaft mehr.

Ein System ist etwas ganz anderes, ein theoretisches Konzept, das Zusammenhänge zwischen einer Ganzheit und deren Teilen beschreibt und das Ganze nicht von den Teilen her versteht, sondern umgekehrt die Teile in ihrer Funktion für das Ganze betrachtet. Dieses Konstrukt wird dann über soziale oder seelische Wirklichkeiten drüberlegt wie eine Folie, um darin bestimmte Regelmäßigkeiten zu sehen. Das passt sehr gut für künstlich geschaffene Systeme. Für die Tatsache des Wachstums – und damit für alles Natürliche und Lebendige – hat die Systemtheorie jedoch keinen Sinn. Erst recht fehlt ihr ein Verständnis für Bewusstsein, Geist und Seele.

In systemtheoretisch-konstruktivistischer Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen Lebendigem und Künstlichem, zwischen Mensch und Maschine, alles folgt denselben mechanischen Gesetzen. Die Schlüsselbegriffe sind Struktur und Funktion, auch alle lebendigen Vorgänge werden darunter subsumiert. Eine Mutter ist zum Beispiel in systemtheoretischer Sicht nichts Natürliches, sondern eine Funktion – die praktischen Auswirkungen davon kann man heute besichtigen. Weil man damit Wandel nur schwer und plötzliche qualitative Veränderungen – wie die Entstehung von Leben oder von Bewusstsein – gar nicht erklären kann, kam man auf den Begriff der „Autopoiesis“ – ein griechisches Wort, das den Vorteil hat, dass die meisten es nicht so recht verstehen. Es ist der „Deus ex machina“ der Systemtheorie. Auf Deutsch bedeutet es „Selbsterschaffung“, aber wie etwas, das es gar nicht gibt, sich selbst erschaffen kann, bleibt dabei vollkommen offen.6 Die Theorie hat aber gewaltige Auswirkungen, denn inzwischen glaubt der moderne Mensch tatsächlich, sich selbst erschaffen zu können oder gar zu müssen.7

Systeme können mechanisch „lernen“ (wie ein Computer), aber sie sind nicht von selbst entstanden und können auch nicht wachsen. Dieses „Lernen“ ist ein rein technischer Vorgang und hat nichts mit Bewusstsein oder mit Seele zu tun. Dies, Bewusstsein und Seele, ist aber das, worum es in der Psychologie – und beim Menschen generell – geht! Die Systemtheorie ist eine abstrakte und materialistische Veranstaltung, und wer aus dieser Perspektive (mit dem systemischen Blick) auf seelische Vorgänge, auf Menschen und auf menschliche Gruppen schaut, sieht sie automatisch als etwas Seelenloses und auch Geistloses an.

Auch die Natur bleibt in der systemtheoretischen Betrachtung etwas rein Mechanisches. Im Begriff „System“ ist alles Natürliche und damit auch alles Menschliche von vorneherein ausgeschaltet. Wenn unser Denken einmal so programmiert ist, folgt dem notwendigerweise auch die tatsächliche Eliminierung alles Menschlichen. Künstliche Intelligenz, künstliches Geschlecht, künstliche Sexualität (Pornografie, Sex-Maschinen / „Toys“, Viagra & Co), künstliche Beziehungen (Dating per Algorithmus), künstliche Familien sind allesamt die logische Folge des systemischen Denkens.

Die praktischen Auswirkungen der konstruktivistisch-systemischen Weltanschauung (das ist es nämlich, nicht nur eine wissenschaftliche Theorie) zeigen sich in den aktuellen Auseinandersetzungen darüber, was eine Familie ist. Heute wird die Familie tatsächlich immer mehr zu einem künstlichen System gemacht, in dem die „Funktionen“ – Vater, Mutter, Kind – von beliebigen Personen ausgeübt werden können, sogar unabhängig vom natürlichen Geschlecht (aus systemischer Sicht könnten sie sogar von Maschinen erledigt werden). Männer sollen, so wird es in Gesetzen festgelegt, Mütter und Frauen sollen Väter sein können, und Kinder können mehrere Mütter haben. Familien wachsen nicht mehr, sondern werden zusammengestellt (konstruiert, nachdem die alte, natürliche Familie dekonstruiert wurde), Kinder entstehen nicht mehr auf natürliche Weise, auf die die Eltern kaum Einfluss nehmen können, sie werden ihnen nicht mehr, wie es früher einmal hieß, „geschenkt“, sondern werden, nach Möglichkeit bis ins letzte Detail, geplant und künstlich erzeugt.

„Familie“ ist im modernen Bewusstsein nichts anderes mehr als ein Konstrukt von Rollen oder, systemtheoretisch gesprochen, von Struktur und Funktion. Das ist Konstruktivismus in der realen Welt, eine Folge des theoretischen Konstruktivismus und der soziologischen und systemischen Vereinnahmung und Umformung natürlicher – und auch seelischer – Prozesse. „Systemische“ Therapie hat diese Sichtweise a priori in sich drin und ist damit blind dafür, was dies für die Seele bedeutet. Damit ist sie in meinen Augen keine Psychologie, keine Seelenkunde oder Seelenlehre mehr. Wer seine Arbeit als „systemisch“ bezeichnet, sollte sich dies klar vor Augen halten.

Systemaufstellungen

Damit bin ich nun bei den „Systemaufstellungen“ und deren Praxis, die dieser Zeitschrift ihren Namen verliehen haben. Ich gehöre zwar zu den ersten Autoren, war aber bei der Gründung nicht dabei, deshalb bin ich nicht ganz sicher, ob meine Interpretation stimmt. Ich denke, der Name „Praxis der Systemaufstellung“ war mehr pragmatisch als theoretisch gemeint. Damals hatte man nämlich entdeckt, dass man mit Aufstellungen nicht nur die inneren Vorgänge in Familien abbilden konnte, sondern auch die in Firmen und Organisationen, also in künstlichen, „gemachten“ (im Gegensatz zu natürlich gewachsenen) sozialen Gruppen und Einrichtungen, für die der Begriff „System“ passt. „Systemaufstellung“ war einfach der umfassendere Begriff gegenüber „Familienaufstellung“, und da damals viele hofften, dass sich die Aufstellungsarbeit auch in der Wirtschaft und Verwaltung ausbreiten würde und man damit viel Geld verdienen könnte, war es naheliegend, diesen Namen zu verwenden.

Begriffe sind aber nicht unschuldig, sie tragen immer eine Weltanschauung in sich, eine Perspektive, einen Standort und einen von diesem Standort bestimmten Blick, mit dem man auf die Welt schaut. Mit dem Begriff „Systemaufstellungen“ wurde somit, sei es gewollt oder ungewollt, zugleich eine solche Perspektive etabliert. Zudem kam darin auch eine Spaltung zum Ausdruck, die die Arbeit mit Aufstellungen von Anfang an begleitet und daraus resultiert, dass unter den ersten und wichtigsten „Schülern“ Hellingers viele systemische Therapeuten waren, die ihre ganz andere (systemisch-konstruktivistische) Sicht in Hellingers Arbeit hineintrugen.

Der bereits genannte Gunthard Weber war sicherlich der einflussreichste darunter, er hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Hellinger plötzlich ein „Star“ in der Szene wurde, später auch weit über diese Szene hinaus. Weber war für Hellinger etwas Ähnliches wie Ouspensky für Gurdijeff: Beide haben den Meister berühmt gemacht und ihn zugleich modifiziert und entschärft. Die „Systemaufstellungen“ sind Gunthard Webers Sache, nicht die von Bert Hellinger. Zugleich hatte Weber, so habe ich es jedenfalls wahrgenommen, eine tiefe Loyalität, ja sogar Liebe zu Bert Hellinger. Sein Buch „Zweierlei Glück“, das Hellinger berühmt gemacht hat, war eine ganz selbstlose Leistung, ein Dienst, bei dem er sich und seine Sicht der Dinge ganz zurückgenommen hat. Dasselbe gilt für die internationalen Hellinger-Kongresse, die Gunthard Weber ins Leben gerufen hat und von denen ich selbst die beiden letzten gemeinsam mit Heinrich Breuer leiten durfte. Ich weiß, wie viel Arbeit dies war, aber auch, welche Freude darin lag und wie es mich beflügelt hat. Die Kongresse gehören sicher zu den Höhepunkten meines beruflichen Lebens.

„Systemisch-konstruktivistisch“ versus „phänomenologisch“

Ich bin nach wie vor der Meinung, dass man „systemisch-konstruktivistisch“ und „phänomenologisch“ nicht unter einen Hut stecken kann. Ich will das hier nicht groß ausführen, das habe ich in mehreren Artikeln in dieser Zeitschrift und besonders in meinen Büchern getan. Phänomenologie ist etwas ganz anderes, als die meisten Aufsteller darunter verstehen. Es bedeutet, sich von den Phänomenen, von den Erscheinungen der Welt und des Lebens, ergreifen zu lassen. Auch von mir selbst, meinem Sosein, dem, was und wie ich bin (anstatt einer Idee zu folgen, wie ich sein möchte). Dabei stirbt jede Ich-Vorstellung, vor allem die moderne Idee der „Autonomie“ und Selbstbestimmung, die für die systemisch-konstruktivistische Sicht leitend ist und das gesamte moderne Bewusstsein bestimmt – auch das der meisten „Systemaufsteller“.

Da geht kein „Ein bisschen hiervon und ein bisschen davon“. Entweder ich glaube, dass ich die Welt (mein Leben) im Griff haben soll und muss – oder, wenn es um Familientherapie geht, dass von den jeweils „autonomen“ Mitgliedern einer Familie ausgehandelt werden muss, wie man das System Familie gestaltet, wie es und die Rolle der jeweiligen Familienmitglieder („Systemteile“) darin aussehen soll(en) -, oder ich lasse mich davon ergreifen, ich lasse mich davon ergreifen, wie diese Familie tatsächlich ist, mich geprägt hat und in mir wirkt. Entweder ich glaube, dass ich mein Leben, meine Kindheit, meine Familiengeschichte „durcharbeiten“ und die Verstrickungen lösen soll und muss, oder ich bin bereit, mich davon bearbeiten, durcharbeiten, durchdringen und läutern, letztlich verbrennen zu lassen. Letzteres hieße, um es mit einem Buchtitel Hellingers zu sagen, „Anerkennen, was ist“ (wobei ich diese Aussage in meiner Arbeit modifiziere in „Sehen, was ist“). Sonst nichts, kein Tun, kein Machen, kein An-sich-arbeiten“, kein Verstrickungen Lösen. Das ist die phänomenologische Haltung, sie ist das genaue Gegenteil der konstruktivistischen.

Auch Bert Hellinger hat dies nicht immer beherzigt und vielleicht auch nicht wirklich verstanden. Er hatte Phasen, wo er so gut wie nichts gemacht hat, wo es tatsächlich nur ums Anschauen und Wirken lassen ging, und andere, wo er einer Idee folgte oder „Verstrickungen lösen“ wollte. Das gilt besonders für die Zeit bis etwa 2000, das so genannte „klassische Familienstellen“, wo er sogar die Idee hatte, mit Familienaufstellungen Krebs und so gut wie alle anderen Krankheiten heilen zu können – sofern die Klienten seinen Einsichten in die in der Krankheit wirkenden Dynamiken folgten. Ob er das wirklich geglaubt hat, weiß ich nicht, aber die Videoserie mit Büchern, die er dazu veröffentlicht hat, lassen es so erscheinen.

Unabhängig davon, was Hellinger gedacht hat: Sätze wie „Ich folge dir nach“ oder „Ich gehe für dich“ und die daraus abgeleiteten „Dynamiken“ zum Thema Krankheit und Sterben gehören für mich zu den problematischsten Seiten von Hellingers Arbeit. Dabei schwingt nicht selten die Idee der Schuld oder des eigenen Verschuldens an einer Krankheit oder sonstigen Problemen mit. Ob das bei Hellinger selbst so war, möchte ich eher verneinen, er war von der Unausweichlichkeit von Schicksalen tief überzeugt. Zugleich schimmerte jedoch in seinem Umgang mit Klienten und vor allem in den so genannten „Lösungssätzen“ etwas durch, was die Betroffenen und viele Betrachter so verstehen konnten, als seien sie oder ihre Vorfahren Schuld an dem Problem und als hätten sie die Lösung in der Hand.

Diese Sicht scheint mir bei vielen Aufstellern verbreitet, auch wenn sie nicht so klar und hart formulieren wie Hellinger. Darin liegt nicht nur die Anmaßung, dass der einzelne Mensch schuld an einer Krankheit sei und sie somit, wenn er „richtig“ gehandelt hätte, hätte vermeiden können, sondern auch die, als Therapeut dem Kranken die richtige Lösung zeigen und als Betroffener die Krankheit wegmachen zu können, wenn man nur das Richtige tue. Und Aufstellungen, so glaubt man – und auch Hellinger erweckte manchmal diesen Eindruck -, zeigen, was richtig ist, zeigen die „gute Lösung“.

Wenn sie dann nicht eintritt, hat der Klient etwas falsch gemacht. Hellinger hat ständig das Wort Anmaßung benutzt, etwa wenn Kinder versuchen, den Eltern zu helfen, ihnen etwas abnehmen wollen, aber er hat selten die Anmaßung gesehen, die darin liegt, etwas „lösen“ zu können. Wenn er jedoch, was auch oft vorkam und ab etwa dem Jahr 2000 eher die Regel war, auf das Lösen wollen verzichtete, indem er zum Beispiel sagte: „Hier kann ich nichts machen“ (leider hat er anstatt „ich“ oft „man“ gesagt, was man zurecht als dogmatisch bezeichnen kann), wurden ihm andere Therapeuten und auch viele Aufsteller oft böse. Für mich waren das die Momente, in denen er am stärksten war, die Momente, in denen er tatsächlich ganz phänomenologisch (ohne Absicht) arbeitete. Vieles bei ihm war einfach widersprüchlich.

Hier zeigt sich eine Schwachstelle, die sich durch Hellingers gesamte Arbeit zieht: Er hat keine tiefere theoretische Reflexion der sich in Aufstellungen zeigenden Prozesse geleistet, er ist mehr oder weniger bei der unmittelbaren Anschauung und ad-hoc-Erklärungen geblieben, die dann – zum Teil von ihm selbst, zum Teil auch von anderen Aufstellern – als „Ordnungen“ oder „Familiendynamiken“ festgeschrieben wurden. Wenn jemand zum Beispiel auf den Boden oder aus dem Fenster schaute, hieß das – ob dem heute noch viele folgen, weiß ich nicht -, „Er schaut auf einen Toten“ oder „Sie will aus dem Leben gehen“. Daraus wurden dann die oben erwähnten „Dynamiken“ („Ich folge dir nach“, etc.) abgeleitet.

Das mag im Einzelfall gelegentlich stimmen, aber als Regel oder gar „Gesetz“ lässt es sich nicht aufrechterhalten. Jede Bewegung oder Haltung eines Stellvertreters in einer Aufstellung hat ihre ganz eigene Bedeutung, die nur für diesen Fall, diesen Kontext und diesen Moment gilt. Es ist auch keine phänomenologische Einsicht, sondern eine Interpretation, die dann einfach verallgemeinert wird. Man muss das Hellinger nicht anlasten, denn man kann nicht alles können. Was man ihm vielleicht ankreiden kann, ist, dass er dazu nie den Dialog gesucht – ja, ihn sogar verweigert – hat. Das hatte wohl persönliche Hintergründe, auf die ich unten noch eingehen werde – er war dazu schlicht von seiner Persönlichkeit her nicht fähig.

Aber die, die die Methode übernommen haben, hätten dies leisten müssen. Die Praxis der Systemaufstellung hätte das Forum dafür sein können und war es in den Anfängen auch. Mit dem Rückzug von Bert Hellinger, dem zunehmenden Bestreben nach gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Anerkennung und der weitestgehenden Ausrichtung auf „das Systemische“ war dann aber die Luft raus. Ich war im letzten Jahr der Printausgabe Mitglied der Redaktion, habe aber mit meinen Ideen dazu keine Resonanz gefunden, so dass ich mich nach einem Jahr wieder zurückgezogen habe. Das heißt nicht, dass ich es besser gemacht hätte als die, die es dann gemacht haben. Wahrscheinlich war einfach etwas anderes an der Reihe.

Vergangenheit, Verstrickung und Lösung

Anfänglich war ich, wie alle Kollegen, sehr beeindruckt davon, wie sehr man anscheinend die Gegenwart durch die Vergangenheit erklären kann und wie tief diese Vergangenheit in einem wirken kann. Aber schon bald sind mir Zweifel gekommen. An der Aussage, dass ich, der erste Sohn einer Frau, deren Vater vor ihrer Geburt tödlich verunglückte, meinen unbekannten Großvater, von dem noch nicht einmal meine Mutter etwas erzählen konnte, bei ihr „vertreten“ sollte, mochte ja etwas dran sein – ich habe mich, allerdings erst als Erwachsener, tatsächlich manchmal ihr gegenüber wie der Größere verhalten. Das taten meine Söhne gegenüber mir und ihrer Mutter aber auch, wenn ich Streit mit ihr hatte – sie haben sie dann verteidigt. Ich fand, dass sich das für angehende Männer gehört und habe darin keineswegs eine „Verstrickung“ gesehen. Dass ich diese Rolle aber aus Liebe für den fernen Großvater angenommen haben sollte, fand ich ziemlich konstruiert. Ehrlich gesagt habe ich diese Liebe nie gespürt. Klar, meiner Mutter hat immer der Vater gefehlt, und manchmal suchte sie nach männlicher Unterstützung, und wenn mein Vater nicht da war, war ich die nächstliegende Adresse. Es war einfach so, dass ich ihr alles, was sie brauchte, geben wollte. Das war – und ist generell – ein tiefes kindliches Bedürfnis – und eine Erkenntnis, die ich ebenfalls Bert Hellinger verdanke.

Die Vergangenheit ist nie die Ursache für die Gegenwart.8 Meine Vorfahren waren alle ungebildet. Meine Eltern waren beide intelligent und konnten viel besser rechnen und schreiben als heute ein Abiturient, aber sie hatten nur Volksschulbildung. Und soweit ich es zurückverfolgen kann, ist keiner meiner Vorfahren weit über die Eifel hinausgekommen. Sie waren Kleinbauern, Waldarbeiter oder Handwerker. Der eine Großvater war Maurer und hatte nebenbei ein Ochsenfuhrwerk, der andere Gleisarbeiter bei der Bahn, daneben gab es kleine Stückchen Land mit einer Ziege, einer Kuh, einem Schwein und Hühnern. Dass ich promovieren, Bücher schreiben und in aller Welt Vorträge halten sollte, wäre ihnen sicher als verrückt erschienen. Es lässt sich absolut nicht aus meiner Familiengeschichte herleiten.

Wenn man allerdings bei Aufstellungen qua Methode der Idee folgt, dass die Ursache für heutige Probleme in der Vergangenheit liegen soll und so lange zurückgeht und nach „Verstrickungen“ sucht, bis man etwas findet, dann bestätigt sich diese Idee. Es ist aber nichts als ein Artefakt. Als ich einmal miterlebte, wie Bert Hellinger – es war in Japan – einen Mutterkonflikt einer Teilnehmerin mit einem „Mord“ in der achten Generation vorher erklärte (den er daraus ableitete, dass eine Teilnehmerin, die für diese Generation stand, umfiel), habe ich mich endgültig von dieser Vorstellung verabschiedet.

Das Konzept der Verstrickung durch die Vergangenheit und der Lösung davon ist zudem eine Macher-Idee. Im Grunde herrscht darin die Vorstellung, sich von seiner Geschichte – sei es die persönliche oder die der Familie – befreien zu können. Das ist dieselbe Vorstellung, die auch die „Humanistische Therapie“ bewegt. Es ist, so seltsam dies mit Bezug auf Bert Hellinger klingen mag, eine Jugendidee, die Idee der Befreiung von der Familie und der Vergangenheit generell.

Allerdings hat Hellinger diese Idee quasi umgedreht, indem er darauf pochte, dass die Lösung nur in Liebe geschehen kann, während in der Gestalttherapie und anderen humanistischen Konzepten die Eltern symbolisch totgeschlagen wurden. Damit hat er sich frontal gegen den Zeitgeist gestellt, der die Befreiung in der Auflehnung gegen die Eltern, der Rebellion, dem Besserwissen und der Niederreißung des Alten sah – und heute mehr denn je sieht. Sein Satz: „Man muss schauen, wohin die Liebe (des Kindes) fließt“ ist für mich eine der wichtigsten und kraftvollsten Erkenntnisse der Psychotherapie überhaupt. Und die in den Aufstellungen offenbar werdende Erkenntnis, dass die kindliche Liebe immer zu den biologischen Eltern fließt, war ein Schlag ins Gesicht des Zeitgeistes und auch der gesamten zeitgenössischen Psychotherapie, ein Schlag und ein Schock, den viele nicht zu nehmen bereits waren und es auch heute noch nicht sind.

Weil ich diese Erkenntnis so wichtig fand, habe ich mein erstes Buch über das Familienstellen „Liebe, die löst“ genannt. Zugleich muss aber klar sein, dass diese Liebe nicht erzwungen werden kann – in diesem Punkt dürfte Hellinger manchmal zu weit gegangen sein, etwa wenn er Druck auf Klienten ausgeübt hat, sich zu verneigen. Er hat dies aber in der Regel nicht gemacht, daher habe ich ihn immer gegen den Vorwurf verteidigt, er würde dies von allen Klienten verlangen. Er hat einfach gesehen, wie gut dies deren Seele tat, und ihnen gesagt, sie sollten sich verneigen oder niederknien. Wenn sie sich weigerten, war die Aufstellung halt vorbei. Gewiss war da auch ein Druck mit im Spiel, wenn dies vor großem Publikum stattfand, aber müssen musste niemand.

In der Verstrickungs- und Lösungstheorie schwingt immer auch die Idee der Befreiung oder Lösung von der Vergangenheit mit, nur der Weg ist ein anderer. Darin steckt eine Illusion: Man kann seine Geschichte nur nehmen, wie sie war, aber sich nie davon lösen. Körperlich sind wir nämlich unsere Geschichte, sie ist in uns verkörpert. Unser Körper, wozu auch der mentale Körper, also der Verstand, und der emotionale Körper gehört, ist nichts als die Gegenwart von Vergangenem in der Gestalt, als die ich gezeugt und geboren wurde und die sich dann durch meine eigene Lebensgeschichte weiterentwickelt hat. Davon kann sich niemand lösen, es sei denn, er stirbt. Auch von den Eltern oder der Kindheit kann man sich nicht lösen, die Eltern bleiben immer unsere Eltern, und zwar genau so, wie sie waren (und nicht so, wie sie in Aufstellungen oft „gemacht“ werden, nicht so, wie sie hätten sein können, wenn all ihre Traumata gelöst gewesen wären), und an der Kindheit lässt sich kein Jota ändern, sie bleibt immer genau die Kindheit, die wir tatsächlich erlebt haben.

Frei sind wir nur im Geist. In der Materie, auch in der Natur und in allem Körperlichen, herrscht reine Notwendigkeit. Der Geist ist jedoch immer frei, er muss sich nicht erst befreien oder von etwas lösen oder gar gelöst werden (von Aufstellern). Das sind Erlösungsphantasien! Man muss das nur erkennen. Erkennen, dass der Geist frei ist und es immer war. Das Kind war – und ist – nie frei (will es auch nicht sein) und kann auch nicht befreit werden. Der Jugendliche will sich befreien und schafft es nicht – aber er muss es versuchen, sonst bleibt er Kind. Wenn er zu der Einsicht gelangt, dass es nichts gibt, wovon man sich befreien kann, dass alles so ist, wie es ist, und die einzige Freiheit im Geist liegt, wird er erwachsen. Erwachsensein ist die Erkenntnis, dass man frei ist. Zugleich ist man damit allein.

Wenn die Aufstellungsarbeit – auch die Psychotherapie insgesamt – dies erkennen würde, wäre auch sie erwachsen. Mir scheint, Hellinger hat dies zugleich gesehen und dann auch wieder übersehen und oft einfach etwas anderes gemacht, und die meisten Aufsteller nach ihm haben vor allem dieses Andere übernommen. Die Lösung geschieht dann, wenn man die Vergangenheit so lässt, wie sie war, vollkommen unangetastet. Dann kann sie – als etwas, was war, wie es war – vorbei sein. Dann trage ich sie in mir und bin zugleich, weil ich ihr zustimme, frei davon.

Ich will

In dem Satz „Man muss schauen, wohin die Liebe fließt, und das dann ausdrücken“, steckt noch etwas anderes, zutiefst Erschreckendes: die Erkenntnis, dass man das, was geschehen ist, innerlich gewollt hat, dass man ihm in seiner innersten Haltung zugestimmt hat. Das hat, vor allem beim Thema „sexueller Missbrauch“, viele empört und gegen Hellinger aufgebracht, es wurde als Verhöhnung des Opfers verstanden. Nein, es war – und ist – die Verwandlung des Opfers in eine handelnde Person. In dem Satz „Ich habe es so gewollt“ oder „Ich will es so“ ist das Opfer kein Opfer mehr. Erst durch diese Einsicht kommt man in seine Kraft und wird handlungsfähig. Außerdem ist es – in einem spezifischen Sinne – die Wahrheit.9

Das gilt auch jenseits des Themas Missbrauch, auch jenseits von Ereignissen aus der Vergangenheit. Ich – dies ist jetzt eine ganz persönliche Aussage – habe kürzlich eine sehr ernsthafte Krankheitsdiagnose bekommen. Bin ich das Opfer? Man kann es so sehen, aber in dieser Sicht bin und bleibe ich ohnmächtig und im Grunde handlungsunfähig. Ich gebe dann die Verantwortung an andere ab, seien es die Ärzte oder das Schicksal. Wenn ich mich aber zu der Einsicht durchringe, dass ich die Krankheit will, sie vielleicht sogar gerufen habe, sie zumindest jedoch als etwas nehme, zu dem ich ja sage, werde ich plötzlich handlungsfähig.

Dann liegt allerdings auch die gesamte Verantwortung bei mir, ausschließlich. Aber tut sie das nicht sowieso, auch wenn ich sie an einen Arzt, an „die Medizin“ oder an „die Wissenschaft“ abgebe? Oder gar, wie es unter Aufstellern nicht selten vorkommen soll, an eine Aufstellung? Die Folgen muss ich immer selbst tragen. Der Unterschied ist nur, dass ich nicht selbst antworte, sondern das Antworten einem anderen überlasse und damit meiner Verantwortung nicht gerecht werde. Die Nicht-Antworten ist zwar auch eine Antwort, aber eine, die ich seelisch nicht zu mir nehme.

Dieses „Ich“ in dem Satz „Ich will die Krankheit“ oder „Ich wollte mich für meine Mutter / meinen Vater opfern“ ist kein Ego. Es ist nicht das persönliche Wollen, eine persönliche Absicht – es ist die Seele (oder auch die Liebe). In Hellingerscher Terminologie: das Größere, das mich führt. Sie ist es, die mir die Krankheit schickt oder mich für sie empfänglich gemacht hat, die, um es mit Hartmut Rosas Resonanztheorie zu sagen, in Resonanz mit dem gegangen ist, was in der Seele als Krankheit schwingt. Indem ich dazu „Ich“ und „Ich will“ sage, nehme ich das Geschehen – etwa den Missbrauch oder irgendein anderes Ereignis aus meiner Kindheit oder auch etwas Aktuelles wie eine Krankheit – erst ganz zu mir: Auch das Wollen meiner Seele nehme ich dann erst ganz zu mir. Wenn ich hingegen sage „Meine Seele will das“, bleibt es noch draußen, bin ich in gewisser Weise immer noch Opfer und kann nichts dafür. Erst mit dem „Ich will“ verbinde ich mich ganz mit der Seele (dem Größeren). In dieser Verbindung liegt die Heilung.

Zugehörigkeit

Ein anderer Punkt, wo Hellinger für mich – diesmal nicht gelegentlich, sondern generell – zu weit ging, war seine Aussage, jedes Kind habe „ein Recht auf Zugehörigkeit“. Dies, das „Recht auf Zugehörigkeit“, ist der wichtigste Aspekt seiner „Ordnungen der Liebe“. Um es klar zu sagen: Es gibt im Leben keine Rechte! So etwas mag man politisch deklarieren (Menschenrechte) und es mag dort sinnvoll und wichtig sein, psychologisch ist dies jedoch Unsinn. Wir haben kein Recht auf Leben, auf Unversehrtheit, auf Gesundheit, auf Liebe – kein Recht auf gar nichts.

Hier spielt etwas sehr, sehr Persönliches in Hellingers Arbeit hinein. Ich würde nicht darüber schreiben, wenn er noch lebte, aber es ist wichtig, dies zu sehen – und zwar nicht nur in Bezug auf Bert Hellinger, sondern für jeden einzelnen in Bezug auf sich selbst. Unsere Theorien sind immer auch ein Ausdruck unserer Persönlichkeit, und was uns in der psychologischen Arbeit am meisten beschäftigt und am tiefsten bewegt, enthält immer etwas Eigenes, ganz Persönliches.

Anton – dies ist Berts Taufname, „Bert“ ist die weltlich klingende Kurzform seines Ordensnamens „Pater Suitbert“ – Hellinger war in seiner Familie das Kind, das keinen Platz hatte, das, so musste es dem kleinen Jungen erscheinen, nicht dazugehören durfte. Die Tatsache, dass er nach seinem Austritt aus dem Orden nicht den Namen wieder annahm, den ihm seine Eltern gegeben haben, sondern aus dem altertümlich-religiösen Suitbert einen lockeren, modernen „Bert“ machte, lässt tief blicken. Ich bezweifle, dass er das einem Klienten hätte durchgehen lassen.

Der kleine Anton war vier Jahre alt, als seine Eltern aus Leimen nach Köln zogen. Der ältere Bruder und die jüngere Schwester durften mit, er musste bei den Großeltern bleiben. Ich glaube, ich brauche hier nicht auszuführen, welch einen Schmerz dies für ein vierjähriges Kind bedeutet. Zwei Jahre später musste er dann aber zu seinen Eltern nach Köln, weil er nach den damaligen Gesetzen dort zur Schule gehen musste, wo seine Eltern gemeldet waren. Dass die Zeit in Köln eine voller fast täglicher Schläge (seitens seines Vaters) war, hat er selbst sehr spät in seinem Leben offenbart.

Daher war es wohl, wie er in allen Gesprächen über seine Lebensgeschichte betonte, eine große Erleichterung für ihn, als er wiederum vier Jahre später, mit zehn Jahren, weit weg von zu Hause nach Lahr bei Würzburg ins Internat geschickt wurde. Für ein Kind in einer „normalen“ Familie wäre dies immer etwas sehr Schmerzhaftes gewesen. Ich war als „Externer“ – was bedeutete, dass ich zu Hause bei meinen Eltern wohnte und täglich zur Schule fuhr – in einer Klosterschule mit vielen Internatsschülern; es wäre für mich die Höchststrafe gewesen, wenn meine Eltern mich dort abgelegt hätten. Anders bei Bert: Im Internat hat er nach eigenem Bekunden die schönste Zeit seiner Kindheit verbracht.

Um es kurz zu machen: Anton Hellinger hatte nie einen Platz in seiner Familie, genauer: nie den Platz, den sich ein Kind im Innersten wünscht. Aus der lebenslangen Suche nach diesem Platz ist seine ganze Arbeit entstanden. Das „Recht auf Zugehörigkeit“ ist seine tiefste Sehnsucht gewesen – genauer gesagt: nicht das „Recht“, sondern das wirkliche Gefühl, dazuzugehören. Auch dass niemand ausgeschlossen werden darf und die Ausgeschlossenen wieder einen Platz bekommen müssen, gehört hierzu. Was er nicht sehen konnte: Er hat immer dazugehört, nur nicht so, wie er es sich wünschte. Der heilende Satz wäre ganz einfach gewesen: „Ich gehöre dazu.“ Man könnte zur Verdeutlichung noch hinzufügen: „… ob es euch (den Eltern) nun gefällt oder nicht, ob ihr mich wollt oder nicht.“ Das kann man aber erst als Erwachsener sehen, es ist ein erwachsener und kein Kindersatz.

Hellinger hat aus diesem Trauma des Nicht-Dazugehörens die Kraft für seine große Arbeit gezogen. Sicher war das auch Kompensation, der kindliche Schmerz im Innern geht dadurch nicht weg. Wer ihm persönlich nah kam, erlebte einen Mann, der zutiefst scheu und unsicher war. Die Sicherheit, die er in der Öffentlichkeit, vor allem bei seiner Arbeit vor großem Publikum, ausstrahlte, stand in einem scharfen Kontrast zu dieser inneren Unsicherheit. Ich erzähle dazu eine kleine Begebenheit.

Beim Kölner Kongress hatten Heinrich Breuer und ich ihn spontan gebeten, kurzfristig einen Workshop anzubieten, bei dem Aufstellerkollegen ihn nach den Veränderungen in seiner Arbeit befragen könnten, besonders nach den „Bewegungen der Seele“ und den Unterschieden zu seiner früheren Arbeitsweise und auch den Schlussfolgerungen, die er daraus ziehe. Wir wollten damit einem Bedürfnis Rechnung tragen, das damals viele Kollegen bewegte. Als wir ihm das vorschlugen, meinte er: „Da muss aber einer von euch mit dabei sein.“ Ich habe gespürt, dass er einen Schutz brauchte, was mich damals sehr verwundert hat. Ich habe das dann übernommen und den Workshop moderiert, so dass Bert nur auf die Fragen zu antworten brauchte.

Es war der kürzeste Workshop, den ich je erlebt habe. Gleich die erste Frage hat Hellinger umgedreht. Anstatt sie zu beantworten, hat er sie psychologisch gedeutet und dem Fragenden eine persönliche Motivation, ein psychisches Problem, unterstellt. Er hat ihn ungefragt wie einen Klienten behandelt, der mit einem Problem zu ihm kommt, anstatt wie einen Kollegen oder erwachsen gewordenen Schüler, der sich mit ihm austauschen möchte und nach einer Antwort auf eine fachliche Frage sucht. Danach hat niemand mehr etwas gefragt.

Darin zeigte sich Hellingers tiefe innere Unsicherheit, die ich damals zwar registriert, aber auch gleich wieder vergessen (oder verdrängt) habe und erst Jahre danach ganz sehen konnte. Die Therapeutenrolle, wo er auf Menschen eingehen und sich Nähe erlauben konnte, ohne dass dies persönlich werden würde und er selbst sich öffnen und zeigen musste, die große Bühne und das „Gehen mit dem Augenblick“, waren für ihn, so merkwürdig dies klingen mag, Schutzraum und Sicherheitsleine. Er konnte immer auf das verweisen, was sich ihm „zeigt“, und darüber gab es nichts zu diskutieren, denn ob es sich ihm, Hellinger, zeigte oder nicht, konnte nur er selbst wissen. Hier konnte er sich ganz einlassen, der Wahrnehmung im Augenblick konnte er ganz vertrauen.

Mit etwas mehr innerer Sicherheit hätte er natürlich Fragen, auch kritische Fragen, zu dem, was sich ihm auf welche Weise zeigt und wie er damit dann umgeht, erlauben und auf sie antworten können. Damit wäre er der Rolle als Lehrer (die er anfangs jedoch wohlweißlich ablehnte und erst ab 2005 auf Druck seiner neuen Frau für sich reklamierte) gerecht geworden, aber diese Sicherheit hatte er einfach nicht. Selbst das offene Gespräch mit ihm wohlgesonnenen Kollegen über grundlegende Themen seiner Arbeit erschien ihm, so jedenfalls mein Eindruck aus den Begegnungen mit ihm, schon gefährlich.

Das „Objektive“ ist ganz subjektiv

Trauma hat oft diese beiden Seiten: Es spornt zu großen Leistungen an und trägt und täuscht einen damit zugleich über den inneren Schmerz hinweg. Die größten Künstler, Schriftsteller oder Theoretiker – sogar und ganz besonders die, die ganz abstrakte Theorien entwerfen – sind oft schwer traumatisiert und arbeiten in ihren Werken ihr Trauma ab (genauer: sie lenken sich damit davon ab, so dass sie das Trauma selbst nicht anschauen und fühlen müssen). Das Persönliche wird dann hinter oder in den großen Theorien oder Werken versteckt und erscheint als etwas Objektives, wo es doch nur die Verfremdung von etwas zutiefst Subjektivem ist. In den meisten Fällen ist das den Betreffenden nicht bewusst. Ich will das nicht für Bert Hellinger behaupten, er dürfte dies schon gesehen haben. Aber nach außen gezeigt hat er es nicht, es blieb weitestgehend in ihm eingeschlossen.

Ich will damit nicht sagen, dass ein Therapeut das Persönliche oder gar Intime nach außen tragen sollte. Ich halte es aber für sehr wichtig, seine Verletzlichkeit nicht hinter der Therapeutenrolle zu verstecken. Je mehr man sich selbst zeigt, umso mehr wird auch der Klient seine verletzten Seiten zeigen, umso mehr wird er einem vertrauen. Und für einen selbst geschieht dabei auch Heilendes. Deshalb ist es für Therapeuten so wichtig, sich selbst sehen zu lernen und den Mut zu haben, sich dem Klienten als Mensch mit all seinen Schwächen zu zeigen.

Hellinger hat immer versucht, das Persönliche aus seiner Arbeit herauszuhalten, hat so gut wie nie über sich selbst gesprochen. Das funktioniert nicht, es schleicht sich dann von hinten ein. So manche verletzende Bemerkung, die ihm bei aller Zuwendung in der Sache zum Beispiel gegenüber Frauen manchmal herausgerutscht ist, dürfte seiner Mutter gegolten haben. Es ist mir auch aufgefallen, dass er in der Zeit um seine Scheidung herum bei Paarproblemen ganz schnell mit der Bemerkung dabei war, „Das ist vorbei“, „Das hat keinen Zweck mehr“ oder so ähnlich. Und die Aura des Autoritären, die ihn umgab und dazu führte, dass erwachsene Menschen neben ihm ganz klein wurden und sich nicht trauten, ihm zu widersprechen, ist auch nicht wirklich heilsam für therapeutische Prozesse, vor allem nicht für inneres Wachstum. Man musste schon recht stark sein, um ihm standzuhalten. Dann allerdings bekam man seine volle Aufmerksamkeit und Anerkennung, und daran konnte man dann auch richtig wachsen.

Es gibt keine Objektivität, in der Wissenshaft nicht und in der Therapie schon gar nicht. Wir handeln immer als Subjekte, und je offener wir dies tun, je mehr wir uns dessen bewusst sind und bereit sind, uns auch selbst berühren zu lassen, ja sogar unsere eigene Verletzlichkeit zu zeigen, umso mehr Abstand können wir von unseren eigenen Themen haben und umso besser können wir den Klienten sehen. Zugleich kann die Arbeit mit Klienten dann auch für unsere eigenen Verletzungen heilend wirken.

Nur der Schmerz heilt

Im Insistieren auf dem Recht auf Zugehörigkeit ist Bert Hellinger dem Bedürfnis des kleinen Anton gefolgt. Er hat diesen Jungen, sich selbst, nicht gesehen, sondern hat aus dessen Perspektive geschaut (war mit ihm identifiziert) und hat dessen Wunsch, das innigste Bedürfnis dieses ausgeschlossenen Kindes, zu einem der Schlüsselpunkte seiner Therapie gemacht. Damit hat er einerseits diesem kindlichen Bedürfnis einen Platz gegeben und den Blick darauf gelenkt, wie wichtig dies für ein Kind ist, und damit unzähligen Klienten geholfen. Ich vermute jedoch, dass die kindliche Wunde damit – nachdem in einer Aufstellung nach vielen Klärungsprozessen das Kind endlich seinen Platz bekommen hat – lediglich überdeckt wird.

Anstatt zu fragen und danach zu suchen, welche Ursachen die Kälte der Eltern oder ihre Wut haben könnte und zu versuchen, durch ersatzweise Therapierung der Eltern, Großeltern und so weiter aus ihnen mitfühlende und liebevolle Eltern und Paare zu machen, die sich dem abgeschobenen Kind dann fünfzig Jahre nach dessen wirklicher Kindheit (in einer Aufstellung!) zuwenden und es endlich nehmen und von ihm genommen werden können (was natürlich alle, die dies miterleben, emotional zutiefst berührt), geht es viel tiefer, wenn man die Tatsachen, etwa die Gleichgültigkeit oder gar die Ablehnung der Eltern, sieht und lässt wie sie sind – und den damit verbundenen kindlichen Schmerz als Erwachsener ganz zu sich nimmt.

Es ist immer der Schmerz, der heilt. Ein Kind kann dies nicht leisten, es muss den Schmerz verdrängen, überspielen, ignorieren oder wie auch immer es ihn vermeidet, sonst würde es daran zugrunde gehen. Erst der Erwachsene kann dies, wenn er die Wirklichkeit, die das Kind erlebt hat, widerstandslos anschaut. Damit bricht die kindliche Wunde noch einmal auf und der kindliche Schmerz kommt mit aller Wucht noch einmal ins Gefühl – aber ins erwachsene Gefühl. Wenn dies bewusst geschieht, ist die Wunde geheilt.

Hellinger hat auch übersehen, dass jedes Kind diesen Platz bereits hat, und dass es vollkommen vergebens ist, ihn einzufordern. Ein Kind gehört immer zur Familie, das ist ein Faktum. Die Eltern können dies zwar ignorieren und das Kind wegschicken oder verleugnen, aber ihm damit nicht die Zugehörigkeit nehmen. Der spätere Erwachsene muss diese Tatsache nur sehen, muss nur sehen, dass er zu dieser Mutter, diesem Vater und all den anderen qua Existenz dazugehört. Dann hört man auf, nach etwas zu suchen oder etwas zu fordern, was man nie bekommen wird. Das ist aber eine Herausforderung, der sich nur ein innerlich Erwachsener stellen kann. Sie erfordert die schmerzliche Einsicht, dass sich das Leben nicht nach unseren Wünschen richtet, und seien sie noch so verständlich. Dem werden die Aufstellungen, in denen zuerst Verstrickungen gelöst werden, nicht gerecht.

Wie die Eltern mit dieser Tatsache umgehen, ist eine ganz andere Frage. Für das Kind, aus der kindlichen Perspektive, ist sie existentiell, für den späteren Erwachsenen – also den Klienten in der Therapie – aber nicht mehr. Er hat ja, was das Kind damals nicht wissen konnte, auch ohne die Eltern überlebt. Wenn er das sieht, kann die Kindheit mitsamt allen Schmerzen vorbei sein. Das Aufrechterhalten der Forderung nach Zugehörigkeit hingegen ist vollkommen ohnmächtig und wirkungslos. Dann sucht man zum Beispiel sein Leben lang nach einer Frau (oder einem Mann), die einem das Gefühl gibt, man sei ihr wichtig. Meistens geht das schief.

Die Ontologisierung von Hellingers Aussagen

Wenn ich sage, „Hellinger hat dies übersehen“, ist das nicht ganz korrekt. Man muss bei Bert Hellinger drei Ebenen unterscheiden. Die erste und wichtigste ist seine Arbeit mit Klienten. Viele Aussagen von ihm, die später mehr oder weniger ontologisiert, als eine Art von Gesetz oder Regel festgeschrieben oder auch als solche kritisiert wurden, stammen aus der Unmittelbarkeit dieses Kontaktes und müssen immer in diesem Kontext gesehen werden. In dem Moment, wo sie dieses Kontextes entkleidet werden und sozusagen als nackte Aussagen dastehen, bekommen sie eine ganz andere Bedeutung.

Genau dies ist aber durch die Veröffentlichungen geschehen. Auch wenn sie oft als Transskripte dargestellt wurden und Aufstellungsbilder mitgeliefert wurden, wirkt dies doch anders als im unmittelbaren Erleben. Zum Beispiel sind körperliche Reaktionen wie die Mimik der Klienten, sprachliche Modulationen oder Dinge, die im stillen Augenkontakt wahrgenommen werden, nicht schriftlich darstellbar – es sei denn, man baut sie in eine Art Erzählung ein, was Hellinger aber nicht getan hat.

Die graphisch dargestellten Aufstellungsschritte seiner Bücher aus den 90ern geben das lebendige Geschehen in keiner Weise wider, und selbst in den Videos ist manches nicht wahrnehmbar, was im lebendigen Kontakt wirkt. Ich habe einmal zu ihm gesagt, dass ich die meisten seiner Interventionen nicht nachvollziehen kann, wenn ich mir die Videos anschaue, dass ich zwar sehe, dass sie wirken, aber nicht, warum und was ihn zu diesem oder jenem Satz gebracht hat. Seine Antwort: „Ich auch nicht“.

Wenn dann auch noch die so genannten „Lösungssätze“ am Schluss eines Buches, wie bei „Ordnungen der Liebe“, zusammengefasst wiedergegeben werden (und, wie ich damals gehört habe, in vielen Weiterbildungen auswendig gelernt werden mussten und abgefragt wurden), entsteht ein starres Regelwerk, das Hellinger praktischer Arbeit nicht gerecht wird. Gleichwohl hat er auch selbst dazu beigetragen, denn schließlich sind es seine Bücher und er ist der Autor.

Drittens hat er Letzteres in Interviews und Gesprächen wiederum relativiert und auf den unmittelbaren und fließenden Charakter seiner Arbeit hingewiesen – was aber nicht ausschloss, dass er es bei nächster Gelegenheit als feste Regel oder „Ordnung“ dargestellt hat.

Was von der großen Mehrheit der Aufsteller hauptsächlich aufgegriffen wurde, ist die zweite Ebene von Aussagen und quasi Lehrsätzen – sei es, dass diese nachgesprochen und zur Grundlage der „Aufstellungen nach Hellinger“ gemacht oder dass sie als dogmatische Aussagen oder Ähnliches kritisiert wurden.

Was ich hier schreibe, bezieht sich auf alle drei Ebenen, darauf, wie ich Hellinger sowohl bei der praktischen Arbeit und in persönlichen Gesprächen erlebt habe, als auch auf die Veröffentlichungen. Es ist also meine Interpretation. Im Einzelfall kann man wahrscheinlich zu den meisten seiner Aussagen auch eine gegenteilige finden.

Hellinger und die Jugend

Bert Hellinger hatte, bedingt durch den Krieg, auch keine Jugend. Als er zurückkam, ist er gleich in den Orden eingetreten und damit an den Platz zurückgegangen, der ihm in der Kindheit den größten – vielleicht den einzigen – Halt gegeben hat. Der Orden war wohl seine Ersatzfamilie. Für Jugend, Sich ausprobieren und Erfahrungen sammeln war dort kein Platz. Erst mit seinem Austritt aus dem Orden, mit über 40 Jahren, hat er diese Ersatzfamilie verlassen, allerdings nicht in der Weise der Jugend, des Sich-Befreiens, sondern in der Weise, dass er (was für sein Alter natürlich vollkommen passte) nach einer sehr zügigen und zielgerichteten therapeutischen Lehrzeit und mit einer Heirat gleich ins Erwachsenenleben eingetreten ist.

Auch das hat seine Arbeit stark geprägt, für die Absetzbewegung des Jugendlichen von den Eltern, überhaupt für das, was Jugend ausmacht, hat er nie Verständnis gehabt. Darin lag allerding auch eine Stärke: Er konnte das moderne Programm der Rebellion und der vermeintlichen Befreiung von den Eltern, das auch in der Therapie herrschte und ein Jugendprogramm ist, von außen sehen und erkennen, dass es eine Sackgasse war.

Die Systemiker hingegen sind diesem Programm gefolgt, und mir scheint, dass dies auch die herrschende Haltung in der Aufstellerszene ist, soweit sie sich der DGfS zugehörig fühlt. Die meisten haben, ganz anders als Hellinger, kaum eine Distanz zum Zeitgeist. Man mag zwar das ein oder andere kritisch sehen, z.B. künstliche Befruchtung durch unbekannte Samenspender, aber der allgemeine Geist, der darin zum Ausdruck kommt (der Machbarkeitswahn der Moderne), wird nicht gesehen. Im Gegenteil: die meisten Aufsteller unterliegen derselben Machbarkeitsphantasie. Das kritiklose Aufgehen im Zeitgeist zeigt sich unter anderem daran, dass sowohl auf der Internetseite der DGfS als auch in der „Praxis der Systemaufstellung“ überwiegend die Gendersprache benutzt wird. In einem Medium oder einem Verband, der dies mitmacht, hätte ein Bert Hellinger, da bin ich mir hundert Prozent sicher, keinen Platz mehr für sich gesehen – das gilt auch für die Zeit, wo er noch in der „Praxis der Systemaufstellung“ veröffentlicht hat.

Insgesamt haben die DGfS und die PdS die revolutionäre Kraft verloren, die, von Bert Hellinger ausgehend, in den Anfängen der Aufstellungsarbeit wirkte. Man ist „anerkannt“ und damit harmlos und zahnlos geworden. Das ist allerdings nichts Besonderes und nicht denen anzukreiden, die sich dort engagieren, es ist das Schicksal aller Verbände. Solange zumindest intern eine offene Debattenkultur herrscht – und dies ist bei beiden der Fall, sonst könnte dieser Artikel hier nicht erscheinen -, wird die ebenfalls zum gegenwärtigen Zeitgeist gehörende Verengung der Debattenräume (dessen, was man ungestraft sagen darf) nicht mitgemacht. Das finde ich sehr bemerkenswert, deshalb fühle ich mich noch zugehörig.

Mein Weg

Ich komme zurück zum Anfang meines Artikels. Was zuerst ein Schmerz und eine große Enttäuschung war, entpuppte sich ein bis zwei Jahre später als Segen. Dank der Distanz zu ihm, zu der Hellinger mich mit seinem Verhalten gezwungen hatte, konnte ich jetzt auch die Schwächen seiner Arbeit klarer sehen. Nicht die des so genannten „Neuen Familienstellens“. Darüber habe ich in der „Praxis der Systemaufstellung“ noch einen Artikel geschrieben, damit war es dann für mich erledigt. Die Vermischung mit dem „Cosmic Power“-Ansatz, einer esoterischen Praxis, die Marie-Sophie Hellinger (damals noch „Erdödy“) bereits in den frühen 90er Jahren bei einem vietnamesischen Lehrer gelernt hatte und die sie schon in der Zeit, wo sie meine Kurse besuchte und organisierte, mit dem Familienstellen verbinden wollte, habe ich nur am Rande mitbekommen.

Als erstes ist mir aufgefallen, dass Hellinger kein Verständnis für die Ablösungsbewegung des Jugendlichen von den Eltern hatte, die auch die Form der Rebellion und radikalen Ablehnung haben konnte. Das hing sicher damit zusammen, dass er selbst, wie erwähnt, keine Jugend in diesem Sinne hatte und 1968 bei seiner Rückkehr aus Südafrika nach Deutschland erschreckt feststellte, dass die damalige Studentenbewegung in ihren Ausdruckformen (und nicht nur darin, sondern auch in manchen Inhalten) manches mit der SA und SS gemeinsam hatte, die er als Kind erlebt hatte. Ich hatte ihm dazu schon 2001 einen langen Brief geschrieben, bin mir aber nicht sicher, ob ich ihn abgeschickt habe. Erst mit dem neu gewonnenen Abstand konnte ich seine Befangenheit bei diesem Thema klarer anschauen und habe es dann gewagt, dies in meinem Buch „Das Leben hat keinen Rückwärtsgang“, das Anfang 2009 erschienen ist, deutlich zu formulieren.

Die Jugend kam in Hellingers Arbeit schlicht nicht vor, er hat entweder mit dem inneren Kind oder mit dem Erwachsenen gearbeitet. Wenn er mit einem Klienten direkt sprach, blieb er fast immer auf der erwachsenen Ebene (wenn jemand sich kindlich verhielt, kam einer seiner berüchtigten Sätze: „Mit Kindern kann ich nicht arbeiten. Du kannst dich wieder setzen.“), in den Aufstellungen dominierte das Kindliche (was man auch daran sehen konnte, dass dabei immer – sowohl in den Aufstellungen selbst als auch bei den Zuschauern – so herzzerreißend geweint wurde). Das alte „Schlussbild“ einer Aufstellung, bei dem die Kinder in vollständiger Reihe und Ordnung vor den Eltern stehen, ist ein kindliches Bild, genauer: ein kindliches Wunschbild. Der Weg ins eigene Leben, der von den Eltern wegführt, kam in dieser Arbeit nicht vor, ebenso wie die Sexualität im Familienstellen keinen Platz hat. Das sind aber die Themen der Jugend, sie existiert im Familienstellen einfach nicht.

Gleichzeitig sind dies genau die Themen, mit denen unser gesellschaftliches Bewusstsein, die Moderne, vollkommen identifiziert ist. Wenn sie nicht gesehen werden, sind Psychologie und Therapie blind für das, was heute in der Seele geschieht. Die so genannte „Autonomie“ oder „Selbstbestimmung“ ist der heilige Gral unserer Zeit. Wir nehmen sie ganz selbstverständlich als etwas Gegebenes oder Anzustrebendes, und die gesamte moderne Psychologie sieht ihre Aufgabe darin, diese Autonomie zu stärken. Tatsächlich ist sie jedoch pure Illusion: Es gibt im Leben keine Autonomie, nichts bestimmen wir selbst.10 Die „Autonomie“ oder „Selbstbestimmung“ ist ein Jugendprojekt, das aus der Notwendigkeit der Jugend kommt, sich von den Eltern lösen zu müssen. Das Bedürfnis, der Wunsch nach Selbstbestimmung wird dabei mit der Realität verwechselt. Die Psychotherapie bedient, wenn sie dem folgt und sich zum Ziel setzt, ihre Klienten dabei zu unterstützen, autonom zu werden, ein vollkommen leeres Bild, dem wir die Neurose unserer Zeit verdanken.

Diese Neurose wird leider, so ist jedenfalls mein Eindruck, auch bei den Systemaufstellern nicht gesehen, weil sie selbst – wie fast die gesamte derzeitige Psychologie – darin leben, weil ihr Bewusstsein darin den Ort hat, von dem aus es auf die so genannten psychischen Probleme schaut. Wolfgang Giegerich, ein Jungscher Therapeut und der in meinen Augen beste und tiefste psychologische Theoretiker der Gegenwart, hat diese „Neurose der Psychologie“, die er als die „metaphysische Krankheit“ der Moderne ansieht, ausführlich analysiert.11 Die Psychologie, die ihre Entstehung der Neurose verdankt und sie angeblich bearbeitet, ist selbst neurotisch geworden, ohne dies wahrzunehmen. Bert Hellinger hat in den neunziger Jahren die ersten beiden Bücher von Giegerich (die „Psychologie der Atombombe“)12 gelesen und war tief beeindruckt davon – hat dies dann aber nicht weiterverfolgt.

Für mich war die Lektüre von Giegerich eine Offenbarung, die zu einem neuen Verständnis von Psychologie und auch einem anderen Umgang mit der Aufstellungsarbeit geführt hat. Heute spielt die Aufstellungsmethode als Instrument nach wie vor eine zentrale Rolle in meiner Arbeit, sie ist aber eingebettet in eine Psychologie, die das Bewusstsein unserer Zeit in den Blick nimmt und den einzelnen Menschen immer im Kontext dieses Bewusstseins sieht. Ich mache zwar manchmal, wenn es mir angezeigt scheint, immer noch Familien- oder Symptomaufstellungen (ohne Verstrickungen zu lösen, ich lasse alles nur anschauen), aber im Lebensintegrationsprozess – so nenne ich meine Arbeit seit 2011 – geht es nicht mehr um die Beziehungen des Klienten zu anderen Personen oder seinen Platz in der Familie (in einem „System“), sondern um die Beziehung zu sich selbst, um das Sehen von und das Ja zu sich selbst, wie man ist. Aber das ist ein eigenes Thema, um das es hier nicht gehen soll.

Bert Hellinger habe ich im Sommer 2013 noch einmal getroffen. Ich hatte einen Ausbildungskurs im Süden von Tschechien, und kurz vorher teilte meine dortige Organisatorin mir mit, dass Hellinger am Wochenende davor in Prag sei. Da ich immer den Wunsch hatte, ihn noch einmal zu sehen und mich in Freundschaft zu verabschieden, bin ich zwei Tage früher gefahren. Als ich sonntags ankam, war gerade die Mittagspause zu Ende. Ich ging in den Saal, Marie-Sophie saß auf dem Podium, aber Bert war nirgendwo zu sehen. Sie begann mit der Arbeit, mit folgenden Worten: „Bei der letzten Aufstellung habt ihr es Bert so schwer gemacht, dass er ganz erschöpft war und sich hinlegen musste“. Mein erster Impuls war, sofort rauszugehen. Dann habe ich aber gedacht: „Wenn du schon mal hier bist, kannst du dir auch mal anschauen, wie sie arbeitet.“ Den Anfang, dass die vorhergehende Klientin oder deren Aufstellung schuld war, dass Hellinger erschöpft war, hatte ich ja schon mitbekommen. So ging es dann auch weiter mit der nächsten Klientin: Zuerst wurden ihr Schuldgefühle gemacht. Nach kurzer Zeit wirkte sie auf mich vollkommen dissoziiert. Jetzt hatte Sophie sie in der Hand. Es war so manipulativ, dass ich nach knapp zehn Minuten den Saal verlassen habe, ich konnte es nicht mehr aushalten.

Als ich ins Foyer kam, kam mir Bert Hellinger entgegen. Er sah mich, ein Strahlen ging über sein Gesicht, er sagte „Wilfried!“ und breitete die Arme aus. Nach einer herzlichen Umarmung sagte er dann: „Lass uns die alten Geschichten vergessen.“ Meine Antwort: „Für mich war alles gut, es hat mir geholfen, meinen eigenen Weg zu finden.“ Darauf er: „Ich muss jetzt reingehen.“ Ich: „Und ich muss weiterfahren.“

So ist es auch mit der Arbeit: Er ist seinem Weg gefolgt und ich meinem. Die Verbindung ist geblieben, die Verbindung im Herzen ebenso wie die im Geist. Ich mache seine Arbeit, das, was für mich den innersten Kern dieser Arbeit ausmacht, auf meine Weise weiter.

1 Siehe dazu meinen Artikel „Anmerkungen zu den Ordnungen der Liebe“, https://www.nellesinstitut.de/blog/anmerkungen-zu-den-ordnungen-der-liebe/.

2 Die Stufen des menschlichen Bewusstsein habe ich zuerst beschrieben in meinem Buch: Das Leben hat keinen Rückwärtsgang. Die Evolution des Bewusstseins, spirituelles Wachstum und das Familienstellen, Köln 2009.

3 Zu meinem Verständnis von Seele siehe: Wilfried Nelles, Welt und Seele, in: Ders., Im Namen des Fortschritts. Das moderne Bewusstsein und der Krieg gegen die Natur. Nettersheim 2023, S. 269-281.

4 Fritz Simon, der profilierteste unter Hellingers systemischen Kritikern, hat dies in der PdS ausführlich und ohne persönliche Angriffe auf Hellinger dargelegt: Fritz B. Simon, „Mein“ Hellinger, in: Praxis der Systemaufstellung, 2/2015.

5 Wilfried Nelles, Hellinger und die „systemische Therapie“. Wird die Wirklichkeit gefunden oder konstruiert?, in: ders., Die Hellinger-Kontroverse, Freiburg 2005, S. 52-88.

6 Eine philosophisch (und biologisch-evolutionstheoretisch) fundierte Kritik des Konstruktivismus (einschließlich seiner systemtheoretischen Variante) findet sich bei Christoph Türcke, Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns, München 2021.

Zur Anwendung des Konstruktivismus in der systemischen Therapie habe ich mich in meinem Buch „Die Hellinger-Kontroverse“, a.a.O., ausführlich geäußert.

7 Sie dazu mein neues Buch: Im Namen des Fortschritts, a.a.O., sowie das Buch meines Sohnes Malte: Malte Nelles, Gottes Umzug ins Ich. Eine Tiefenpsychologie des modernen Menschen, München 2023.

8 Siehe dazu mein Buch „Krieg gegen die Natur. Das moderne Bewusstsein und seine Grenzen“, besonders die Essays „Das Leben, die Welt und ‚Ich’“ und „Erinnern und Vergessen – Für einen anderen Umgang mit der Vergangenheit. Nettersheim 2023 (InnenAnsichten).

9 Wenn man noch tiefer schaut, entdeckt man darin eine Verbindung zum kultischen Menschenopfer, bei dem das „Opfer“, das zugleich ein(e) Auserwählte(r) war, für das Wohl der Gemeinschaft geopfert wurde. Das war eine heilige Handlung, das Menschopfer ist die Urform jeder Religion und damit eine der ursprünglichsten und tiefsten Bewegungen der Seele. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass dies Hellinger bewusst gewesen wäre.

10 Wilfried Nelles, Die Welt, in der wir leben. Das Bewusstsein und der Weg der Seele, Köln 2020.

11 Wolfgang Giegerich, Neurosis. The Logic of a Metaphysical Illness. New Orleans 2013.

12 Wolfgang Giegerich, Die Atombombe als seelische Wirklichkeit. Versuch über den Geist des christlichen Abendlandes, Zürich 1988, sowie Drachenkampf oder Initiation ins Nuklearzeitalter, Zürich 1989.

Wilfried Nelles, 11.12.2023

 

 

Bert Hellinger, die „Systemaufstellungen“ und ich – eine autobiografische Geschichte