Die Unschuldigen

Die Unschuldigen

Eine Welle des sozialen Engagements schwappt durch den Westen. Es gibt einen Oberbegriff für dieses Engagement, wobei nicht ganz klar ist, ob es sich dabei um einen selbstgewählten Slogan der Aktivisten oder ein abwertendes Prädikat der Kritiker handelt: woke, was sich auf einen höheren Zustand der Klarheit und Einsicht bezieht. Trotz dieses gemeinsamen Nenners hat das Engagement viele verschiedene Gesichter: Klima, Rasse, Geschlecht, soziale Gerechtigkeit, Migration. Und all diese verschiedenen Strömungen haben ihre eigene Anhängerschaft, ihre eigene Sprache und Symbolik und ihre eigene Empörung.

Das Engagement strahlt auch einen starken Sinn für Dringlichkeit und einen gewissen aufgeklärten Absolutismus aus. Als Straßen- und Twitter-Aktivismus ist er manchmal geradezu aggressiv; die eher parlamentarischen Versionen befürworten den Ausnahmezustand und sind bereit, demokratische Prozesse und Grundrechte außer Kraft zu setzen. Es gibt auch eine große Entschlossenheit und ein gewisses Gehabe bei diesem Engagement. Die Zeit der gegensätzlichen Meinungen und Andersdenkenden ist vorbei. Die Gegner werden als psychisch kranke Menschen mit einer Phobie bezeichnet.

In progressiven Kreisen finden diese Bewegungen großen Anklang, vielleicht weil sie an nostalgische Gefühle von Exzellenz und Emanzipation appellieren. Vielleicht lassen sie das soziale Engagement der 1970er Jahre wieder aufleben? Nach all der neoliberalen Vulgarität scheint es endlich wieder Platz für Inspiration zu geben, und es gibt wieder Hoffnung für die Welt. Wenn wir uns beeilen.

Die Kritiker scheinen in der Defensive zu sein. Der häufigste Einwand ist, dass dieses Engagement seine Tugend ziemlich ostentativ zur Schau stellt. Aber was ist falsch daran, tugendhaft zu sein? Was ist falsch an der Korrektheit, in diesem Fall der politischen Korrektheit? Außerdem sind die lautesten Kritiker oft Vertreter populistischer Gruppen und spielen im gesellschaftlichen Diskurs keine wirkliche Rolle. Dennoch scheint Woke mit seiner Abschaffungskultur von Rednern, Akademikern, Büchern, Ritualen und alten Helden ein paar scharfe Kanten zu haben.

Wie sollten wir Wokeness beurteilen? Als Segen, der auf den Westen herabkommt, oder als Fluch? Sind Wokies unsere soziale Vorhut, die Trendsetter einer neuen Sichtweise auf die Beziehung der Menschen zueinander und zur Natur? Und wird die konservative und unbewusste Mehrheit nachziehen, wie es bei den Emanzipationsbewegungen der 1970er Jahre der Fall war? Werden sich die populistischen Bewegungen verflüchtigen, weil wir uns am Feuer einer inspirierenden, neuen und gemeinsamen Herausforderung wärmen können? Oder ist Wokeness das Symptom einer verwirrten Modernität? Und um eine systemische Perspektive hinzuzufügen: Gibt es irgendetwas, das durch den Trommelwirbel des Erwachens aus dem Blickfeld gerät?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die Luft untersuchen, die wir atmen, das Wasser, in dem wir schwimmen, kurz gesagt, das Bewusstsein, in dem wir leben. Die Dimension unseres Lebens, die wir aufgrund ihrer Natürlichkeit und Allgegenwärtigkeit kaum wahrnehmen.

Das moderne Bewusstsein ist ambivalent

Als in den 1960er Jahren die kollektive Befreiung des Individuums durchbrach, nachdem in den Jahrhunderten zuvor Künstler und Wissenschaftler uns den Weg zeigten, wurde ein gigantisches Reservoir an entfesselter individueller Kreativität, Energie und Ehrgeiz freigesetzt. So konnten wir jahrzehntelang große soziale Fortschritte erzielen und die neu erworbenen Freiheiten in vollen Zügen genießen. Die Vitalität und der Ehrgeiz sprühten aus dem Fernsehbildschirm. Wir haben die Ketten der Hierarchie durchbrochen. Kirche und Land wurden zum Gegenstand des Spottes. Wir wollten unser eigenes Leben leben, nicht mehr das von Papa, Mama oder dem Pfarrer, und wir wollten die Welt verbessern. Das moderne Leben, das Ergebnis einer individuellen Entwicklung, hat in den 60er und 70er Jahren einen unglaublichen Aufschwung erfahren. Sie war von einer beeindruckenden Realität und Ausdruckskraft in Lifestyle, Gastronomie, Mode, Kunst und Wissenschaft.

War sie von Dauer, diese Befreiungseuphorie? Apropos, was ist mit unserer Freiheit, einer der Säulen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde? Sind sie Ausdruck einer erfolgreichen Weltanschauung oder einer Flucht nach vorn, ein Zeichen der Verzweiflung? Und die Armut, wurde sie bis zu einem gewissen Grad ausgerottet? Vielleicht noch nicht ganz in Burundi und Mosambik, aber vielleicht in den Niederlanden? Mehr als eine halbe Million niederländische Haushalte leben in Armut. Wenn Geld nicht die Antwort ist, sind wir dann überhaupt gemeinsam glücklicher geworden? Der Umfang des DSM-5, des Handbuchs der offiziell anerkannten psychischen Störungen, hat sich mehr als verdoppelt. Burnout ist die Volkskrankheit Nummer 1. Und obwohl es noch nie so viele Psychologen gab, gibt es noch viel mehr Klienten. Auf einer Warteliste. Unsere Häuser sind dank Waschmaschinen, Staubsaugern und Allzweckreiniger makellos, aber gilt das auch für die Umwelt?

Das scheinbar Offensichtliche, dass der Kern unseres modernen Bewusstseins die Freiheit und die Entfaltung des Individuums ist, und dass all diese freien Individuen eine perfekte Welt schaffen würden, ist bei näherer Betrachtung nicht haltbar. Als wir alle Freiheit gelebt hatten, waren wir immer noch nicht glücklich, und die Welt war nicht perfekt, im Gegenteil.

Wir haben es mit einem großen Missverständnis der Modernität zu tun. Ihr Wesen ist nicht die individuelle Freiheit, sondern die Ambivalenz. Ambivalenz, weil das “Ich”, das Ego, die dominante Identität der Moderne ist. Und das Ego ist ambivalent. Es ist nicht glücklich, weil es frei ist (diese Freiheit entpuppt sich immer mehr als Last), es ist glücklich, wenn es von außen bestätigt wird, und unglücklich, wenn es keine Likes erhält. Ambivalenz als machtlose, ohnmächtige Sackgasse des Selbst.

Ego und Neurose

Zu Beginn des 20ten Jahrhunderts stellte Sigmund Freud die Diagnose, dass die Persönlichkeit aus drei Teilen besteht: dem Es, dem Ich und dem Über-Ich. Das Es ist der primitive und instinktive Teil unseres Gehirns und das Über-Ich ist unser Gewissen, unser moralisches Bewusstsein. Das Ich ist der realistische, rationale Teil unserer Persönlichkeit, der zwischen den instinktiven Begierden des Es und der moralischen Nomenklatur des Über-Ichs vermittelt.

In der Alltagssprache ist dies immer noch die Sichtweise bezüglich des Ichs, der rationalen Dimension unserer Psyche, aber wir sind seit Freud etwas weiser geworden. Eckhart Tolle zum Beispiel, beschreibt diese Ego-Dimension in seinem Buch “Jetzt! Die Kraft der Gegenwart”, in dem er das Konzept des “Schmerzkörpers” einführt. Der Schmerzkörper ist der Aspekt des Egos, in dem alle unverarbeiteten Traumata schlummern. Der Schmerzkörper ernährt sich von allem, was in unserem Kopf vor sich geht, von unseren Urteilen und negativen Gedanken. Wenn wir uns mit diesen Gedanken identifizieren, halten wir uns für dumm, hässlich und erfolglos. Da wir dieser höllischen Schleifmaschine in unserem Kopf ständig unsere Aufmerksamkeit schenken, wird dieses negative Selbstbild ständig verstärkt. So bleibt der Schmerzkörper am Leben und kann sogar wachsen.

Das Ego ist also nicht die einzige Dimension unseres Menschseins, und es ist auch nicht einzigartig in der Moderne. Aber das Ich bin und das Ich will sind in der Moderne dominant geworden. Das Ego identifiziert sich mit Gedanken und mit Erscheinungen, und es ist nicht an sich in Ordnung, sondern nur bedingt, nämlich nur, wenn es bejaht wird. Sie ist ein mentales Konstrukt, das sich ständig mit anderen vergleicht und auf externe Bestätigung angewiesen ist. Und obwohl alle spirituellen Traditionen das Fummeln des Egos herunterspielen, ist es für den westlichen Menschen eine süchtig machende und hartnäckige Konditionierung.

Tausende, wahrscheinlich Millionen von Menschen quälen sich mit der Identifikation mit dem Ego. Burnout, Stress, Impotenz, Aggression – man muss kein Psychologe sein, um zu sehen und zu wissen, dass es in der westlichen Welt unsägliches psychisches Leid gibt. Neurosen, gleich welcher Art, sind die psychische Pandemie der Moderne. Und die Chronologie der Neurose verläuft absolut parallel zu derjenigen der Moderne.

Der Jungsche Psychologe und Philosoph Wolfgang Giegerich hat interessante Überlegungen zu unseren Neurosen angestellt. Nach Giegerich kann man die Neurose an ihrem absoluten Charakter erkennen. Die Neurose entstand in dem Moment, als die typischen Fragen des modernen Bewusstseins, des Ichs: “Wer soll ich sein?” oder “Wie soll die Welt sein?” von einem absoluten Standpunkt aus betrachtet und interpretiert wurden. Obwohl die Moderne das Zeitalter der Freiheit und Relativität zu sein schien, gab es einen Rückfall in das Zeitalter des Gruppenbewusstseins [1], in dem alles absolut war: Himmel oder Hölle, Gott oder Teufel, oben oder unten. Nach Giegerich kommt in der Neurose etwas Altes, das der Mensch eigentlich loswerden wollte, plötzlich durch die Hintertür wieder herein, ohne dass es jemand bemerkt, nämlich das absolute Gruppenbewusstsein. Bei der Neurose wird die Realität nur nach den Kriterien des Absoluten betrachtet.

Erkennen Sie sie, diese Art von Aussagen, in der Welt um Sie herum? Das “absolut inakzeptabel! “, das “unbedingt notwendig! “Obwohl die Moderne uns individuelle Freiheit gebracht hat, relativiert der erwachte Aktivist nichts. Es gibt keinen Kompromiss zwischen Vernunft, Maß und Rationalität. Es ist das reine Ausagieren des Absoluten. Mit dem Absoluten zeigt die Neurose, dass sie sich gegen konkrete Erfahrungen oder erhellende Nuancen mit einer zwingenden Überzeugung wehrt und gegen rationale Einsichten immun ist.

Nach Giegerich weiß die neurotische Psyche im Prinzip, was wahr ist und was nicht, zieht daraus aber nicht die notwendigen Konsequenzen. Er weiß zum Beispiel sehr genau, dass seine Mutter ihm 25 Jahre lang nicht die Liebe gegeben hat, die er sich wünschte, und dass sie ihm diese lang ersehnte Liebe auch heute oder morgen nicht plötzlich geben wird. Aber die neurotische Ego-Seele besteht darauf, diese Erwartung aufrechtzuerhalten. Die neurotische Psyche ist irrational, hält aber stark an ihrer Irrationalität fest: Um Mikroaggressionen zu verhindern, wird man zum Aggressor, im Kampf gegen Diskriminierung diskriminiert man jetzt andere als vorher, Körper, die angeblich soziale Konstrukte sind, erfordern physische Eingriffe, um sie zu verändern, und um fossile Brennstoffe loszuwerden, verbrennt man Bäume.

Der Totempfahl der neurotischen Psyche ist die Idee der Machbarkeit; es ist die grundlegendste Synthese der Moderne. Aber die Machbarkeit, wie das wahre Leben lehrt, ist eine Illusion. Und wenn wir diese Illusion verlieren, sind wir hilflos verloren. Ganz allgemein kann man sagen, dass eine Neurose die Weigerung ist, in die reale Welt einzutreten. Die Welt der begrenzten Machbarkeit, des Guten und Bösen und des Schicksals, des inhärenten Leidens als Teil der menschlichen Existenz.

Schuld

Wo soll sie hin, diese kollektive Bedeutungslosigkeit, die latente Unruhe und Aggression des Ichs? Die sich zusammenbrauende Unzufriedenheit wird für immer mehr Menschen unerträglich. Unsere grenzenlose Freiheit hat eine Schattenseite: Sie hat zum Vorwand der Machbarkeit des Lebens geführt. Da wir nun selbst für unsere Gefühle, für unsere Beziehungen, für unsere Karriere, für unser ganzes Leben verantwortlich sind, ist es auch unsere “eigene” Schuld, wenn etwas schief geht, und das wird auf uns abfärben.

Schuldgefühle wurden uns schon in jungen Jahren eingeimpft. Seht, Wohin? Auf uns’re Schuld, haben wir von Bach gelernt. Aber früher konnte ich meine Schuld vor Gott bringen. Er würde mir verzeihen. Oder ich könnte die Erbsünde notfalls mit in den Tod nehmen, um wenigstens im Reich Gottes befreit zu werden. Es gab auch eine Alternative: Ich konnte meine Schuld auf eine andere Gruppe projizieren, und wenn diese kollektiv projizierte Schuld groß genug war, würden wir diese Katharsis “Krieg” nennen. Aber jetzt, da Gott tot ist und wir Konflikte barbarisch und Aggressionen selbst auf kleinster Ebene inakzeptabel finden, steht das moderne “Ich” allein und einsam da. Sie kann ihre Schuld nicht mehr ertragen, nicht mehr aushalten und sucht nach einem Ausweg.

Und den gibt es. Wenn das Heil nicht mehr bei Gott zu finden ist und wir unsere Schuld nicht mehr auf andere projizieren dürfen, gibt es nur noch eine Richtung. Ich projiziere meine Schuld auf mich selbst. In einer Dimension des Selbst, die ich glaube, ändern zu können. Denn ich glaube, ich habe die Kontrolle über mich selbst. Endlich habe ich meine Freiheit zurück! Meine Unzufriedenheit, meine unbewussten Schuldgefühle weise ich zurück, transformiere und projiziere sie auf ein konkretes Objekt des machbaren Ichs und der machbaren Welt. Meine Geschichte, mein Land, meine (Stamm-)Eltern, mein Geschlecht, meine Hautfarbe,unser Klima sind nicht gut! Sie müssen geändert oder abgeschafft werden. Und diese Veränderung befreit mich von meiner Schuld. Ich werde wieder unschuldig. Unschuldig wie ein Kind. Die lähmende Schuld wird in Machbarkeit und Befreiung umgewandelt.

So ist die Schuldneurose entstanden.

Die Schuldneurose ist oft daran zu erkennen, dass man für das Offensichtliche eintritt, für das, wogegen niemand ist. Social Justice? Wer hat etwas dagegen? Black lives matter? Das scheint mir offensichtlich. Nachhaltigkeit und ein gutes und ausgewogenes Verhältnis zu unserer natürlichen Umwelt? Ja, natürlich. Das scheint harmlos, ja sogar sympathisch, aber Vorsicht: Mit der Feststellung des Offensichtlichen, mit der Befürwortung des Selbstverständlichen wird eine Position bezogen: Ich bin in Ordnung, aber die anderen taugen nichts. Ich argumentiere mit dem Offensichtlichen, um über die Anderen reden zu können. Durch die Schuldprojektion auf das Selbst werde ich tugendhaft, und durch meine tugendhaften Rationalisierungen lande ich auf Umwegen bei den Anderen. Und Untugend muss bekämpft werden, wenn nötig mit aller Härte. Unsere (Selbst-)Verzweiflung zeigt sich: die Zeit der Gespräche mit dem Gegner ist vorbei. Realismus ist altmodisch. Das Absolute aus der Zeit des Gruppenbewusstseins kehrt zurück. Und die Richtung der Projektion verrät ihre Quelle; dreht man die Projektion um, sieht man den Übeltäter: die modernistische, erschöpfte Unzufriedenheit des “Selbst”.

Woke ist eine zunehmend kollektive Schuldneurose, ein neurotisches Schuldgefühl, eine Folge der Fragmentierung der selbstverherrlichenden Moderne. Es ist das Bündel aus Sinnlosigkeit, Frustration und Aggression, Angst und Scham, das nach einem Ziel sucht. Auf der Suche nach Sinn und Erfüllung. Dies ist natürlich eine zutiefst menschliche Sehnsucht. Aber aufgrund seiner selbstzerstörerischen Natur kann er nichts schaffen, sondern nur zerstören. Aufgrund ihres kollektiven Charakters gewinnt die Selbstzerstörung – unter dem Motto des Engagements – an Schwung. Der Sturm der gesammelten, entwurzelten und frustrierten Egos ist zu allen erdenklichen Schrecken fähig, kann sie aber nicht wahrnehmen. Sie wähnen sich letztlich an der Spitze der Pyramide des Bewusstseins und der Erleuchtung und betrachten die Unwissenden mit engstirniger Verachtung. Es ist aber eine regressive Bewegung, denn das Absolute kehrt aus dem Gruppenbewusstsein zurück.

Der Anspruch des modernen Menschen auf Machbarkeit führt zu seiner Auffassung von Schuld. Der Mensch, der den Anspruch erhebt, sein Leben und in dessen Gefolge die Welt zu beherrschen, kann scheitern. Er macht sich selbst zu Gott, und Gott hatte er einige Jahrzehnte zuvor mit Nietzsche als Sprachrohr für tot erklärt. Der Preis, den wir für diese Autonomiefiktion zahlen, ist Schuld. Die Gewinner sind schuldig, weil sie gewonnen haben. Weil sie diskriminieren, andere als die Verlierer, weil sie die Welt mit ihrem Reichtum verschmutzen und sich einbilden, moralisch überlegen zu sein. Die Verlierer sind schuldig, weil sie verloren haben, weil sie andere diskriminieren als die Gewinner, weil sie durch ihre Armut verschmutzen und weil sie rachsüchtig sind.

Die Ambivalenz der Moderne spiegelt sich auch in unserer Auffassung von Schuld wider. Einerseits verabsolutieren wir unsere Ego-Bedürfnisse, indem wir jede erdenkliche persönliche Entscheidung für uns beanspruchen und meinen, wir müssten bei jeder persönlichen Verletzung ernst genommen werden. Auf der anderen Seite, und wir sehen den Widerspruch nicht, ist das Ich voller Scham, wie z.B. Flugscham und Kinderscham, und wir schämen uns für unsere Privilegien verschiedener Art.

Schuld und Verantwortung

Schuld ist ein alltägliches Duden-Wort. Für unsere Gesellschaftsdiagnose müssen wir die “Schuld” aber auch unter dem Gesichtspunkt des Zeitgeistes betrachten. Für ein Kind bedeutet Schuld das Gefühl, nicht mehr zur Gruppe zu gehören. Das Schuldgefühl dient dazu, die eigene Unschuld und damit das Gefühl der Zugehörigkeit wiederzuerlangen. In den Schuldgefühlen ist immer ein kindliches Bewusstsein enthalten, das an dem Bedürfnis nach Unschuld festhält.

Schuld oder Unschuld haben also praktisch nichts mit Gut und Böse zu tun; die schlimmsten Gräueltaten werden manchmal mit gutem Gewissen begangen. Wir fühlen uns bei einer guten Tat schuldig, wenn sie von dem abweicht, was andere von uns erwarten. Diese Zeit des Krieges macht das wieder deutlich, und sei es nur wegen unserer eigenen moralischen Überlegenheit in der Frage, was wahr und falsch ist, wer die Guten und wer die Bösen sind.

Für das erwachsene Bewusstsein ist Verantwortung eine “Antwort” von dir selbst auf etwas Unausgewogenes in deinem Leben. Sie ist nicht moralisch, nicht idealistisch, sondern “nur” eine angemessene Reaktion auf die Situation, die das Gleichgewicht wiederherstellt und sie emotional und materiell neutralisiert. Verantwortung zu übernehmen ist also keine lästige Pflicht, sondern ein erwachsener Akt, der zur Erfüllung, zum Glück und zu wahrer Freiheit führt. Es ist also etwas völlig anderes als die Projektion von Schuld.

Der Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung kommt sehr einfach in den Aussagen engagierter Menschen zum Ausdruck: Der weiße niederländische Prominente, der in der Talkshow behauptet, dass “der Rassismus in den Weißen steckt”, erzeugt Schuld. Wenn er sagt: “Der Rassismus steckt in mir”, übernimmt er Verantwortung. Der männliche Soziologe, der in der nationalen Zeitung sagt, dass “Männlichkeit ein großes Problem ist”, zeigt mit dem Finger. Wenn er sagen würde: “Meine Männlichkeit ist ein großes Problem”, würde er Verantwortung übernehmen.

Die Übernahme von Verantwortung führt zu Harmonie und Frieden. Die Projektion von Schuldgefühlen erfordert Posen, die dann zu Euphorie führen können, die wie ein Opiat immer mehr Posen erfordert, aber niemals zu Seelenfrieden und Zufriedenheit.

Synthese

Kinder sind unschuldig, immer. Und deshalb können sie keine Verantwortung tragen, obwohl sie es manchmal unbewusst für ihre machtlosen Eltern tun, aber es schadet ihnen.

Ein erwachsener Mensch kann nicht unschuldig bleiben, sei es auch nur im Sinne der Jungfräulichkeit, und übernimmt Schuld, indem er Verantwortung übernimmt.

Der ambivalente Erwachsene, der moderne Engagierte denkt, dass das Gegenteil von Schuld Unschuld ist, und vergisst dabei, dass dies nur im Bewusstsein des Kindes so ist. In seiner/ihrer Schuld gibt es immer ein kindliches Bewusstsein, das sich an das Bedürfnis nach Unschuld klammert[2] . Das erklärt auch seine Faszination für Kind-Aktivisten.

Für einen Erwachsenen ist dies eine Illusion; der Schritt zum Erwachsensein ist der Verlust der Unschuld. Schuldgefühle verschwinden, wenn man sich dieser Tatsache stellt und die Schuld annimmt. Ein Erwachsener übernimmt dann die Verantwortung. Verantwortung ist nicht ideologisch, nicht dogmatisch, nicht verstellt und rein persönlich. Verantwortung hat keine Vorstellung vom anderen, muss nicht überzeugen, fühlt sich nicht moralisch überlegen. Sie ist lediglich die “Antwort” auf das Leben im Hier und Jetzt. Verantwortung bedeutet auch, die Vergangenheit nicht ständig mit sich herumzutragen und aus ihr heraus zu handeln und zu leben, sondern im Gegenteil, auf das Leben im Hier und Jetzt zu reagieren. Wir können dann erkennen, dass es nicht unsere Vorfahren sind, die nicht tugendhaft sind, zumindest nicht mehr oder weniger als wir selbst, sondern dass es unsere Unfähigkeit ist, mit dem Geschehenen umzugehen.

Fragen Sie einen Therapeuten, wohin selbstzerstörerische Gefühle führen: zu schweren psychischen Problemen, zu ruinierten Leben. Das “Ich”, das nicht in Ordnung ist, lehnt das Selbst und alles, was natürlich mit ihm verbunden ist, ab. Wo die Befreiungsbewegungen der 60er und 70er Jahre das Verschlossene öffneten, wird nun aufgrund der Unerträglichkeit dieser Offenheit das Offene wieder geschlossen. Wir nennen es „woke“ und gehen davon aus, dass es sich um einen neuen emanzipatorischen Impuls handelt. Es ist jedoch ein Versuch des unglücklichen Ichs, der Fiktion der eigenen Schuld zu entkommen. Eine regressive Bewegung des schockierten Ichs, das Richtige zu tun angesichts unzähliger Entscheidungen und erdrückender Verantwortung. Woke ist die neurotische Projektion von Schuld auf das Selbst, auf das Eigene, weil nur das zur Versöhnung mit der unergründlichen Leere und quälenden Ohnmacht zu führen scheint.

Das Phänomen des Woke ist also nicht die Aufklärung, die es vorgibt zu sein, sondern eine sich aus Engagement ergebende Verwirrung über Schuld und Unschuld, über den Unterschied zwischen kindlicher (Un-)Schuld und erwachsener Verantwortung.

Es ist Zeit, aufzuwachen.

[1] Das Gruppenbewusstsein ist das kollektive Bewusstsein, wie es in der Vormoderne (auch im Westen) vorherrschend war, d.h. etwa bis zum Beginn der Individualisierung im gesellschaftlichen Maßstab in den 1960er Jahren. So wie die Familie für das Kind ein sicherer Hafen ist, war die Gruppe für den Erwachsenen über Jahrtausende hinweg in all ihren Formen (Familie, Dorf, Verein, Religion, Nation) notwendig, um dazuzugehören und sich sicher zu fühlen.

[2] Wilfried Nelles, Die Welt in der wir leben, S. 266 ff.

Dieser Beitrag wurde ursprünglich am 13.04.2022 hier veröffentlicht.

 

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