Das „Gute“ und das „Böse“ – Das Leben und der Tod

Das „Gute“ und das  „Böse“ – Das Leben und der Tod

Artikel von Wilfried Nelles

Das Böse ist das Kind des Guten

Das Problem mit dem so genannten Bösen ist der Begriff oder die Idee des Bösen selbst. Das Böse ist eine menschliche Erfindung, eine menschliche Vorstellung und Idee. In der Existenz und der außermenschlichen Natur gibt es das nicht. Wenn wir über das Böse sprechen oder gar philosophieren, tun wir aber so, als ob es etwas Wirkliches wäre. Und dann fragen wir: Wo kommt es her? Die Antwort ist ganz einfach: aus unserem Kopf, aus unserem Denken. Es gibt keine Sache und auch keine Tat, die von sich aus böse wäre.

Was es gibt, sind Dinge, Taten, Geschehnisse, Menschen und andere Lebewesen, die wir nicht mögen, die unser Zusammenleben stören oder gar zerstören, die uns erschrecken, uns grausam erscheinen, die dem, was uns lieb und teuer ist, uns hilft und nützt oder was wir zum Überleben brauchen, schaden und deshalb unsere Abwehr und am Ende dann auch unseren Abscheu mobilisieren. Sie „böse“ zu nennen, heißt nichts anderes, als dass wir sie nicht haben wollen. Noch präziser: Wir wollen die Tatsache, dass sie Teil der Welt und des Lebens sind, nicht wirklich an unser Bewusstsein heranlassen. Dass das Leben so ist, wie es ist, und eben auch das beinhaltet, was wir „böse“ nennen, wollen wir nicht wahrhaben. Mit dem Wort „böse“ schließen wir sie quasi aus der Existenz aus und halten sie so von uns fern – allerdings nur von unserem Bewusstsein, tatsächlich bleiben sie.

Das „Böse“ ist auch – sogar vor allem – ein Kind des „Guten“. Es ist dessen absolut notwendiger Gegenpol. Mit dem „Guten“ ist das „Böse“ gesetzt, ohne Ersteres gäbe es auch Letzteres nicht. Wenn wir das Böse nicht wollen, müssten wir zuallererst vom Guten ablassen. Das „Gute“ gibt es natürlich auch nicht, es ist ebenfalls eine menschliche Erfindung. Es heißt nichts anderes, als dass etwas uns angenehm ist, uns nützt und wir es deshalb mögen. Wie sein Gegenpart sagt es überhaupt nichts aus über die Welt und die Dinge selbst. Es sagt nur etwas aus über den Menschen, über den, der davon spricht, und zwar etwas äußerst Triviales: Das gefällt mir, das mag ich.

Es macht also keinerlei Sinn, sich über das Böse und dessen Ursache oder Herkunft oder Überwindung Gedanken zu machen, solange man es als etwas Reales irgendwo draußen in der Welt betrachtet. Es existiert nämlich nur in unserem Denken. Da es in der Wirklichkeit nicht existiert, kann man es dort draußen auch nicht überwinden, man konnte es in hunderttausend Jahren Menschheitsgeschichte nicht und wird es auch in den nächsten hunderttausend Jahren nicht können.

Daher sollte man dort nachschauen, wo es existiert, nämlich in unserem Denken. Man sollte die Idee des Bösen (und mit ihr auch die des Guten) untersuchen und die Frage stellen: Wie kommt der Mensch – und nur der Mensch! – dazu, etwas Seiendes als böse zu bezeichnen? Und: Kreieren wir das Böse vielleicht gerade dadurch, dass wir das Gute wollen, und zwar nur das Gute? Wäre es nicht, wenn man das Böse meiden will, in erster Linie notwendig, von der Idee des Guten abzulassen? Ich betone: von der Idee. Dass wir etwas als angenehm, liebenswert, schön, nützlich, hilfreich und damit (für uns) „gut“ ansehen, ist vollkommen normal, menschlich und natürlich. Dasselbe gilt für das Gegenteil. Auch dass wir Dinge und Verhaltensweisen als schlecht betrachten, weil sie uns – dem jeweils einzelnen oder auch der Gemeinschaft – schaden, gehört zum Menschlichen dazu. Auch, dass wir uns dagegen schützen und wehren und das für uns, also ganz subjektiv, Gute anstreben. Das ist aber etwas anderes als „das Gute“ und „das Böse“. Dies sind abstrakte und zugleich absolute Ideen, die als etwas objektiv Seiendes verstanden werden. Als solche gehören sie in den Himmel und nicht auf die Erde. Dort richten sie nur Unheil an.

Adolf Hitler – und andere „böse“ Menschen

Damit das nicht zu abgehoben klingt, will ich die „bösen“ Dinge auch benennen: Quälerei, Sadismus, Folter, Vergewaltigung, Mord (mit den Steigerungen Kindermord, Massenmord, Völkermord) und dabei kurz auf den Bösen schlechthin schauen, auf Adolf Hitler. Allein schon die Tatsache, dass Hitler auch angenehme, „gute“ menschliche Seiten hatte, dass er zum Beispiel seine engeren Mitarbeiter nicht nur höflich und freundlich, sondern mit menschlicher Anteilnahme behandelte, wollen die meisten nicht sehen, obwohl viele Menschen aus seinem persönlichen Umfeld dies bezeugen. Auch dass er seine Mutter zutiefst geliebt hat, will man nicht sehen. Oder dass ihm das fürchterliche Elend in Wien als junger Mann sehr nah gegangen ist und er sich gefragt hat, wie man das ändern könnte (seine Antwort in dem damals vor arbeitslosen „Migranten“ überquellenden Wien war: die Fremden müssen weg, und später: die Juden sind schuld) – all dies will niemand sehen. Und dass er ein charmanter, außerordentlich belesener und kluger Gesprächspartner, Kunstliebhaber und großer Tierfreund war, wird, sofern es überhaupt jemand weiß oder zur Kenntnis nimmt, allenfalls als Fassade für das so genannte Böse gelten gelassen.

Tatsächlich war er aber all dies und einer der größten Mörder der Geschichte in einer Person. Noch verstörender ist es, dass der größte Teil der Führungsschicht im Nationalsozialismus Idealisten waren – Hitler an erster Stelle. Er strebte eine – nach seinen Vorstellungen, die allerdings zu weiten Teilen die Vorstellungen der damaligen Zeit in ganz Europa waren –

ideale Welt an, und für deren Realisierung war ihm kein persönliches Opfer zu groß. 1 Das heute herrschende Bild, in dem man sich die Nationalsozialisten als einen Verein älterer reaktionärer Männer vorstellt, geht vollkommen an den historischen Tatsachen vorbei. Der Nationalsozialismus war eine idealistische, revolutionäre, „progressive“ Jugendbewegung, die sich gegen (fast) alles Alte wendete und die Welt von Grund auf umkrempeln wollte. Hitler war bei der Gründung der NSDAP 32 und bei der Machtergreifung 44 Jahre alt, die übrige Führungsschicht war etwa zehn Jahre jünger, also in den „Kampfjahren“ zwischen 20 und 35.

Dass sie Zerstörer sind und ohne Skrupel jeden opfern, der ihrer Idee vom Guten im Weg steht, gilt ebenso für die linken Massenmörder der Geschichte, die vielen auch heute noch als die Guten erscheinen, wie etwa Mao, Pol Pot, Lenin, Trotzki, Stalin, auch Fidel Castro und Che Guevara. Einige von ihnen hatten sicherlich die „gute“ Motivation, das einfache Volk, die Bauern, die Arbeiter oder generell die Armen zu befreien und ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Dafür mussten Millionen sterben, auch und gerade von den Armen, und die klassenlose Gesellschaft, die sie sich erträumten und die all die Blutopfer rechtfertigen sollte, wurde nirgendwo erreicht.

Eine gewisse Sympathie für den ein oder anderen von ihnen hatte ich auch einmal, weil ihre Ideale den meinen ähnlich waren, auch wenn mir die tödliche Konsequenz, mit der sie diese über alles (und eben auch über jedes Leben, einschließlich des eigenen) stellten, nie zu eigen und daher auch nie geheuer war. Sie alle waren, ebenso wie Hitler, schreckliche Mörder, die brutal und kaltblütig über jedes Leben hinweggingen, wenn sie dies im Namen der Realisierung ihrer Ideen für nötig hielten, und zugleich waren sie Menschen wie andere, allerdings mit einer ganz außergewöhnlichen Kraft und einem ganz außergewöhnlichen Schicksal. Diesem Schicksal hatten sie zu dienen. Und alle hatten sie die tiefste Überzeugung, dass sie dem „Guten“ dienten, auch wenn ihnen wahrscheinlich allen klar war, dass sie dafür die „bösesten“ Mittel benutzten. Vielleicht dienten sie ja alle dem Leben – auf eine Weise und in einem Sinne, den wir nicht verstehen können oder wollen.

Damit komme ich zur Frage zurück, was diesen Menschen und ihren Taten gemeinsam ist und was wir, wenn wir nicht dieselben Ideale haben, böse nennen. Sie haben alle eine Idee vom Guten, ein Ideal, das sie absolut setzen; sie wollen alle das (in ihren Augen) Böse vernichten. Sie sehen sich als Erlöser und sind Zerstörer. Das gilt aber nur für die „großen“ Mörder, die „großen“ Bösen. Die gewöhnlichen „Bösen“ – Sadisten, Vergewaltiger, Mörder, usw. – haben mit dem „Guten“ nichts im Sinn. Sie nehmen sich einfach, was sie wollen, und vernichten dabei, was sie stört, und manche haben daran sogar Vergnügen. Was sie dabei treibt, ist für jemanden, der diese Lebenshaltung oder gar Lust nicht kennt, wohl nie zu verstehen. Auch alle psychologischen Erklärungen sind äußerst dürftig. Mir scheint, dass es gerade die Anbetung des so genannten Guten und die Verbannung aller gegenteiligen Lebenskräfte aus der Existenz ist, die die perversesten Formen der Destruktivität – etwas die brutale sexuelle Benutzung von Kleinkindern und sogar Säuglingen oder die Lust am Töten und an Folter – hervorbringt. Denn alle Kräfte, die zum Leben gehören, wollen da sein dürfen. Auch hier gilt (vielleicht sogar ganz besonders): Indem wir sie „böse“ nennen, wollen wir dies alles von uns fern und „den Menschen an und für sich“ rein und unschuldig halten und unseren Traum bewahren, dass das Leben doch eigentlich schön und rein und gut sein sollte. Was wir nicht sehen wollen ist, dass die Zerstörung, wie auch immer sie vonstatten gehen mag, zum wirklichen Leben dazugehört. Leben ohne Zerstörung ist nicht denkbar, und wenn es Zerstörung braucht, braucht es auch Menschen (Tiere, Naturgewalten), die diese Zerstörung ins Werk setzen und ihr Diener sind.

Das Böse und der Tod

Mir scheint, dass bei der Verdammung des „Bösen“ unsere Haltung zum Tod eine entscheidende Rolle spielt. Das, was unserem Leben und dessen Erhaltung dient, nennen wir gut, das, was dem Tod (der Zerstörung) dient, nennen wir böse – allerdings nur dann, wenn es unseren eigenen Idealen oder auch nur unseren eigenen Interessen entgegensteht. Das muss ja noch nicht einmal ein menschliches Handeln sein. Wir bezeichnen auch manche Tiere als böse, etwa einen Wolf. Beim „bösen Wolf“ lernen schon kleine Kinder, was böse ist. Warum ist er böse? Weil er gerne Schafe frisst und damit dem Menschen schadet. Der isst nämlich auch gerne Schafe, bevorzugt kleine Lämmlein, aber das ist (oder war, solange der Vegetarismus nicht zur neuen Moral wurde) nicht böse, es dient ja unserem Leben und unserem Wohlbefinden. Der Wolf hingegen ist böse, weil er uns Menschen die Schafe wegfrisst, die doch eigentlich wir essen wollen.

Nicht nur in der menschlichen Geschichte, sondern auch in der Natur sehen wir gute und böse Kräfte am Werk. Tatsächlich kennt aber weder die Natur noch die gesamte Existenz gut und böse. Bevor der Mensch mit seinen „Werten“ auftauchte, war sie einfach nur da. Und sie hat wunderbar funktioniert, obwohl auch damals schon die einen Tiere die anderen gefressen haben und es Klimawandel und Artensterben und Viren und Bakterien gab, denen viele Menschen oder andere Lebewesen zum Opfer gefallen sind. Es gab nur niemanden, der das böse fand.

Auch der Mensch hat die Welt nicht immer in gut und böse unterteilt. In den mythischen Kulturen gehörten alle Kräfte und Wesen einfach dazu, sie galten alle als göttlich und hatten eine Repräsentanz im Götterhimmel oder in der Natur, die insgesamt göttlich war. Erst mit dem Monotheismus und dann ganz besonders mit dem Christentum mit seinem Gott, der das absolut Gute repräsentierte, kam auch die Idee des absolut Bösen in die Welt. Von nun an war das, was man „böse“ nannte, nicht mehr Teil der (göttlichen) Natur und damit des Lebens, sondern etwas, das vom Teufel kam und der göttlichen Ordnung entgegen stand, und das es daher zu bekämpfen und nach Möglichkeit zu vernichten galt. Wolfgang Giegerich nennt dies die „Einfriedung des Schreckens“ und sieht die Atombombe als das buchstäbliche Ergebnis des Versuchs, das „Böse“ immer mehr einzusperren. In der Bombe ist alles „Böse“ so zusammengepresst, dass es riesiger Sicherheitsvorkehrungen bedarf, dass es nicht freigesetzt wird, und dass es, wenn dies geschieht, auf einen Schlag alles vernichten kann.2 Das ist aber ein eigenes Thema, auf das ich hier nicht weiter eingehen möchte. Stattdessen möchte ich zum Tod zurückkehren, denn unsere moderne Haltung zum Tod scheint mir in unserem Kampf gegen „das Böse“ eine zentrale Rolle zu spielen.

Wir wollen den Tod und das Töten nicht haben, wollen seine Existenz nicht an uns heranlassen. Uns schaudert vor ihm, und es schaudert uns, weil wir uns von ihm abwenden. Anstatt ihn zu sehen, schauen wir weg oder versuchen allenfalls, ihn zu denken – was eine besonders trickreiche Weise des Wegschauens ist, denn wer denkt, schaut und sieht nicht, er sieht nur seine eigenen Gedanken. Für den Verstand bedeutet der Tod aber das Ende, daher kann er ihn nicht akzeptieren und auch nicht denkend ergründen. Würden wir ihn wirklich anschauen, wären wir augenblicklich ruhig. Wir glauben, er wäre das Gegenteil des Lebens, dessen Verneinung, dessen Vernichtung. Wir stellen uns auf die Seite des Lebens oder, genauer, dessen, was wir dafür halten, und empfinden alles, was der Zerstörung und damit dem Tod dient, als „böse“.

Das wirkliche und das abstrakte Leben

Unsere Parteinahme für das Leben und dessen Erhaltung ist kreatürlich-natürlich, ein uns mitgegebener Instinkt, den wir mit jedem Lebewesen teilen. Darin drückt sich nicht weniger aus als der Wille des Lebens, das da sein will. Er ist uns körperlich, emotional und geistig (mental) eingepflanzt. Für diesen Willen, für dieses Dasein-Wollen (und somit auch für uns Menschen), ist der Tod schmerzlich und sind die Kräfte der Zerstörung schrecklich, denn sie bedeuten für ihn eine Grenze, die er nicht überschreiten kann, der er sich letztendlich fügen muss, ob er will oder nicht. Insofern ist es natürlich, sich davor zu schützen, so gut es geht, und nötigenfalls die zu töten, die einen selbst töten wollen. Niemand will eine Giftschlange im Haus – und dies sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Dennoch gehören Giftschlangen genauso zur Existenz wie wir Menschen und alle anderen Kreaturen. Selbst vom Standpunkt der Natur aus und aus schlichtem Eigennutz wäre es keine gute Idee, sie auszurotten – es würde mehr Unheil anrichten, als es die Schlangen selbst tun. Und „böse“ sind sie genauso wenig wie die Meerschweinchen, die sie gerne verschlingen.

Wir sind aber mehr als Naturwesen, wir sind Leib-Seele-Geist. Wenn wir uns aus der Identifikation mit dem Körperlichen lösen und vom Geist aus darauf schauen, können wir sehen, dass das Leben den Tod voraussetzt, es entsteht sozusagen aus ihm. Ohne Tod keine Geburt und kein Leben, ohne Zerstörung keine Schöpfung, keine Bewegung und keine Entwicklung. Der Tod ist der logische Grund des Lebens, die Zerstörung ist die Bedingung dafür, dass Neues entstehen kann, auch die Bedingung dafür, dass wir als Menschen wachsen und uns entwickeln können, körperlich wie geistig. Jedes Wachstum ist zugleich Zerstörung und setzt immer sterben voraus. „Und solang du das nicht hast / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde“ (Goethe). Alles Lebendige nährt sich vom Tod, vom Sterben und von der Zerstörung eines Anderen.

Das ist gewiss eine schmerzliche Einsicht, wobei der Schmerz allerdings nur so tief geht, wie unsere Identifizierung mit dem Körper. Er ist aber kein Grund, diese grundlegenden Lebensvorgänge abzuwehren und als falsch anzusehen. Damit stellen wir uns über das Leben, von dem wir doch nur ein Ausdruck, eine Gestalt unter Billionen anderen sind. Wenn wir uns als Parteigänger für das Gute (das „Leben“) betätigen und das Böse (den Tod bzw. das, was ihm dient) vernichten wollen, sind wir in Wirklichkeit lebensfeindlich. Das, wofür wir kämpfen und was wir für das Leben halten, ist nämlich gar kein wirkliches Leben. Es ist ein abstraktes, ein gedachtes Leben, von dem das Wichtigste abgezogen (abstrahiert = abgezogen) ist: nämlich der Tod. Man tut so, als gäbe es ein reines Leben ohne Tod. Diese Abstraktion (das gilt für jede Abstraktion) ist wirklich tot, sie hat das Leben nie berührt. Das reine Leben ist nichts als eine Idee.

Leben ist Umwandlung

Wenn wir vom wirklichen Leben berührt werden wollen – ich meine in unserem Bewusstsein, in unserem Körper und seinem natürlichen Funktionieren wirkt dieses Leben ohnehin in uns -, müssen wir dies – den Tod, die Zerstörung mitsamt all den Kräften, Lebewesen und Menschen, die ihm dienen – an uns heranlassen. Wir müssten aufhören, sie böse zu nennen und uns davon, auch wenn dies überaus schmerzlich und zutiefst traurig sein mag, berühren lassen und sie ganz zu uns nehmen. Denn wir sind diese Kräfte, sie sind in jedem von uns und machen unser Leben aus. In uns wirkt das Zerstörerische wie das Schöpferische, sie sind in der Tiefe ein und dasselbe. Wir leben nur, weil und solange wir töten.

In Wirklichkeit gibt es gar keine Zerstörung, es gibt nur Umwandlung. Man kann dies am Vorgang des Essens und der Verdauung sehen. Zuerst töten wir ein anderes Lebewesen, sei es ein Tier oder eine Pflanze, dann zermalmen wir es mit unseren Zähnen, und schließlich wird es im Verdauungstrakt von anderen Lebewesen (von Bakterien und Viren, die wir auch gerne wieder in gut und böse unterteilen) zerlegt und so lange bearbeitet, bis seine Energie (die in ihm enthaltene Lebendigkeit) in unseren Körper übergeht. Das für uns nicht Verwertbare scheiden wir aus und es wird von anderen Lebewesen wieder verwertet.

Was bei diesem Prozess immer bleibt, ist das Lebendige, das Leben. Wir brauchen immer Lebendiges als Nahrung. Das, was wir „Energie“ oder Kalorien oder Vitamine, Kohlehydrate, Proteine oder Hormone nennen, ist alles nur Leben. Von den chemischen Verbindungen ernährt sich niemand. Auch so genannte „künstliche“ Lebensmittel werden aus natürlichen, aus Tieren und Pflanzen, hergestellt. Selbst in einer Vitaminpille ist noch das Leben enthalten, aus dem der chemische Stoff extrahiert wurde. Das kann zwar niemand messen, weil das Leben nichts Positives, nichts Seiendes, nichts Stoffliches ist und die Wissenschaft nur Stoffliches, Materielles messen kann, aber es drückt sich in allem Seienden aus. Das Leben selbst ist reines Sein, ohne jede Form, aber es ist in jeder lebendigen Form – ob wir sie nun gut nennen oder böse. Was fortwährend zerstört / umgewandelt wird, ist die jeweilige Form. Das Leben wandert von einer Form in die andere, und Zerstörung und Tod sind nichts anderes als dieser ewige Formwandel.

Es käme also darauf an, sich nicht mit der Form zu identifizieren, sondern das wahr-zu-nehmen, was in der Form in Erscheinung tritt: Das Leben, das weder Geburt noch Tod kennt, weder Anfang noch Ende, weil es beides in einem und zugleich keines von beidem ist.

1 Ich empfehle dazu die Biografie von Claus Hant: Hitler. Die wenig bekannten Fakten. Rotterdam 2020. Eine ausführliche Buchbesprechung finden Sie hier.

2 Wolfgang Giegerich, Die Atombombe als seelische Wirklichkeit. Versuch über den Geist des christlichen Abendlandes, Zürich 1988.

Dieser Artikel ist die schriftliche Fassung eines Vortrags, den ich am 31.05.2022 in der Frühlingsakademie unseres Instituts in Nettersheim gehalten habe.

 

Das „Gute“ und das „Böse“ – Das Leben und der Tod