Gedanken zum Jahresbeginn 2025
Von Wilfried Nelles
Soeben hat das letzte Jahr des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts begonnen. Ich erinnere mich noch an die Aufgeregtheiten der Jahrtausendwende, an die Prognosen, von Sterndeuterei über technische Utopien bis zu angeblich tiefsinnigen Gedanken, was die „neue Zeit“ alles mit sich bringen würde. Auch heute, wo man sehen kann, dass die Zeit seitdem ihre ganz eigenen und eigenwilligen Wege gegangen ist, schaut man an jedem Jahresbeginn wieder in die Zukunft und träumt und schwingt große Reden über den Fortschritt, den die Menschheit angeblich macht. Vor allem hofft man alle Jahre wieder auf Besserung, darauf, dass das Leben besser wird und die Menschen besser und moralischer werden, während sich beim technischen Fortschritt manche fürchten, um ihm dann doch hinterherzulaufen. Richtig ist: Alles ändert sich, vieles in immer schnellerer Geschwindigkeit. Aber ist das wirklich ein Fortschritt in dem Sinne, dass das Leben besser würde?
In meiner Jugend gab es weder Internet noch Handys. Wenn man die Zeit sieht, die – vor allem, aber nicht nur – Jugendliche und jüngere Menschen am Handy verbringen und die Dinge, die man alles damit machen kann, muss man sich fragen: Wie konnten wir damals überleben? Müssen wir nicht total unglücklich gewesen sein? Hinter dem Mond, abgeschnitten von der Welt, ohne Kontakt zu Freunden, uninformiert und dumm? Und all die umständlichen Wege und Tätigkeiten, die man heute per Fingertipp erledigt? War das nicht unendlich mühsam und zeitraubend? Ist der Fortschritt, zumindest der technische Fortschritt, nicht eine unumstößliche Tatsache? Haben wir nicht ein viel besseres Leben?
Das, was wir Fortschritt nennen, ist eine seltsame Sache. Wenn man zurückblickt, meint man, es hätte den Menschen damals etwas gefehlt. Aber wie kann einem etwas fehlen, was es nicht gibt?
In den Jahren 1971/1972 (und auch danach, es hat lange angehalten) war ich schwer verliebt, aber ich konnte mit meiner Angebeteten nicht simsen oder chatten, geschweige denn dauernd telefonieren oder videocallen. Sie war noch Schülerin und wohnte bei ihren Eltern in der Eifel, ich studierte in Bonn. Am Wochenende trafen wir uns, immerhin hatte ich ein altes Auto und, was noch viel besser war, meine eigene klitzekleine Studentenbude – so hießen damals unsere Wohnungen – in Bonn. Unter der Woche war, wenn überhaupt, Briefverkehr angesagt, von heute aus gesehen Schneckenpost. Telefon gab es zwar, aber für mich so gut wie nicht, dazu musste ich zum Hauptpostamt gehen und mich dort verbinden lassen, denn auch Münztelefone gab es noch keine. Wenn‘s ganz wichtig gewesen wäre, hätte ich allenfalls meine Zimmerwirtin fragen können, ob ich mal ihr Telefon benutzen darf und dann ihre Eltern am Apparat gehabt.
Wir haben uns einfach mündlich fürs nächste Wochenende verabredet, und dann stand ich meist am Bahnhof und wartete voller Vorfreude darauf, dass sie aus dem Zug stieg. Sicher war dies nie, ich bekam keine sms von unterwegs „komme in 7 ½ Minuten“ oder „hab leider den Zug verpasst“. Aufregend! Als ich im Sommer 1972 einen Ferienjob hatte, bei dem ich einen Monat lang in einem Umkreis von 100 Kilometer rund um Stuttgart Interviews in Unternehmen gemacht habe, war ich so oft wie möglich im Stuttgarter Hauptpostamt zu Besuch, um nach postlagernden Briefen zu fragen und zu telefonieren. Welch ein Abenteuer!
Wie gesagt: Was es nicht gibt oder man nicht kennt, kann einem nicht fehlen. Ich war schon als Kind sehr gut in Geografie, aber bevor ich zwanzig war, wusste ich nicht, wo Mallorca liegt, ich kannte noch nicht einmal den Namen, denn damals flog noch niemand nach Mallorca, wenigstens nicht in der Schicht, aus der ich kam. Als unsere Fußballmannschaft A-Jugend-Kreismeister geworden war, sind wir mit einem Bus nach Hitzacker an der Elbe und von dort weiter nach Hamburg zu einem Reeperbahnbesuch gefahren, das war für uns eine supergeile Sache, wahrscheinlich viel geiler, als heute in solch einer Situation nach Mallorca zu fliegen (es gab auch noch keine Pornos, wo ein 18-Jähriger mit dem, was wir dort live zu sehen bekamen, heute schon längst überfüttert ist). Malle hat keiner vermisst. Klingt heute komisch oder hinterwäldlerisch? Denk mal richtig nach!
Wer meint, es wäre heute besser, irrt gewaltig. Das Gegenteil ist der Fall: Wir Heutigen haben viel verloren. Die Freiheit, die Lebendigkeit und die geistige Offenheit, die ich in meinen jungen Erwachsenenjahren erlebt habe, die Selbstverständlichkeit, mit der wir damals mit Menschen aus anderen Kulturen und mit anderer Hautfarbe oder anderer geschlechtlicher Orientierung umgegangen sind, erscheint mir heute fast als Utopie. Aber auch das ist nur für die ein Problem, die noch wissen, dass es mal anders war und daher das Frühere mit dem Heutigen vergleichen können.
1979, ich war 30 und meine Frau 25, sind wir zum ersten Mal nach Thailand geflogen. Ein Studienkollege, den ich eher flüchtig kannte, leitete dort seit kurzem das Büro des Deutschen Entwicklungsdienstes und hatte für zwei oder drei Nächte ein Hotelzimmer für uns gebucht – der Rest war offen. Wir hatten keine Ahnung, was uns erwartet, außer 30 Grad im Februar. Wir hatten uns natürlich per Brief verständigt. Schon im Flugzeug zeigte Asien uns sein bestes Gesicht: wunderschöne und überaus freundliche Stewardessen in noch schöneren bunten Gewändern, komfortable Sitze in einem Jumbo mit viel Platz und leckeres Essen – wir flogen mit Singapur Airlines. Kein Vergleich zu den vollgestopften Fliegern heute. Gut, das hatte seinen Preis: 1.300 DM pro Person, das entspricht heute einem Business Class Ticket. Der Vorteil: Greti und Pleti flogen nicht nach Thailand in Urlaub, so gut wie niemand tat dies, außer ein paar armen Backpackern wie wir, die rechnen konnten. Denn unter dem Strich waren 4 Wochen Thailand billiger als 2 Wochen Skiurlaub, am Tag haben wir für zwei Personen 10 DM ausgegeben, inklusive Übernachtung.
Aber das erfuhr man nicht im Internet, das es nicht gab, und auch nicht im Reisebüro, das es zwar gab, aber Thailand weder im Pauschalangebot hatte noch als „special“ anbot. Dazu musste man Leute kennen, die Leute kennen, die mal dort waren, und sich vor Ort mit Leuten unterhalten, die einem Tipps gaben, wo man billig und gut essen und schlafen konnte und wo die besten Strände oder die interessantesten Orte waren. Man musste also mit richtigen Menschen sprechen und vorher oder unterwegs das eine oder andere Buch (!) lesen. Dann hatte man das Paradies fast exklusiv für sich allein.
Und man war ganz, ganz weit weg von zu Hause, viel weiter als es heute noch möglich ist. Man war in einer anderen Welt. Da Thailand – im Jahr danach kam dann Malaysia dazu, wo es ähnlich war – kein Urlaubsland war, gab es noch nicht einmal deutsche oder englische Zeitungen. In Bangkok gab es zwei Orte, wo man die BILD kaufen konnte, außerhalb nichts. Und Telefon gab es in Koh Samui, wo einem heute, wenn man Pech hat, vielleicht der Nachbar begegnet, natürlich auch nicht. Wie gesagt: Wir waren in einer anderen Welt, und das war wunderbar. Keine täglichen Nachrichten, keine Tagesschau, kein Fußball, überhaupt kein Fernsehen, vier Wochen keine Zeitung – zu Hause las ich berufsbedingt täglich drei plus zwei Wochenzeitschriften. DAS war Urlaub. Und meine Mutter schickte mir nicht alle paar Tage eine Whatsapp, um zu wissen, wie es mir geht und was ich esse. Erholung pur.
Nein, gefehlt hat mir damals nichts, ganz im Gegenteil. Es war eine wunderbare Erfahrung zu merken, dass ich das alles nicht brauche, vier Wochen Abstand von der gewohnten Welt, die mein Leben verändert haben. Heute hängen dort alle am Handy wie zu Hause. Abstand war gestern. Heute ist Symbiose – am besten mit der ganzen Welt. Virtuelle – also eingebildete, vollkommen künstliche, unwirkliche – Symbiose, nichts als Illusion. Real herrscht das Gegenteil: Einsamkeit.
Ganz ohne Romantik: Zumindest in diesem Punkt sind wir zwar fort geschritten, aber ein Fortschritt ist das nicht. Wir haben viel verloren. Es gibt fast nirgendwo mehr einen Platz, wo man sich zurückziehen kann – es sei denn, man schaltet alles ab, was einem dann den Unwillen der meisten Zeitgenossen, Freunde und Familie eingeschlossen, einbringt.
Gehen wir etwas weiter zurück, sagen wir rund 200 Jahre, in die Zeit von Goethe und Schiller, von Kant, Hegel und Nietzsche, Beethoven und Mozart. In eine Zeit, wo es weder Radio noch gar Fernsehen gab und Tageszeitungen nur an wenigen Orten für einige wenige, und wo man mit der Pferdekutsche reiste, wenn man zu denen gehörte, die sich so etwas leisten konnten. Waren diese Männer dümmer als wir? Hatten sie, ganz ohne Google, keine Ahnung von dem, was in der Welt geschah? Müssen wir sie bedauern, weil sie sich nicht über alles per Knopfdruck informieren konnten? Weil sie nicht wussten, dass es gestern in China ein Erdbeben gab und heute in Kalifornien eine Feuersbrunst und wie Sushi schmeckt oder was das überhaupt ist? Und auch nicht, wo XY sich gerade befindet und was er / sie gerade auf dem Teller hat?
Sind wir seitdem klüger oder dümmer geworden? Hat Goethe weniger von der Welt gewusst als du, der du dies liest? Ich meine nur die ganz profanen Dinge, nicht die tieferen Dimensionen des Lebens und des Geistes. Wenn wir die auch noch einbeziehen: Wer von den heutigen „Intellektuellen“ könnte sich auch nur ansatzweise mit ihm messen? Also: Wo ist da der Fortschritt?
Nicht wenige, die sich für klug halten, werfen diesen Männern und ihren Zeitgenossen ja heute sogar vor, dass sie nicht so dachten und fühlten, wie sie es heute tun. Dass sie ein anderes Frauenbild hatten, eine andere Einstellung zu Menschen anderer Hautfarbe und Rasse, einen anderen Glauben, andere Gefühle, andere Lebensgewohnheiten, und merken nicht, wie dumm das ist. Der Glaube, wir lebten heute in einer besseren Welt als damals oder seien gar bessere (moralischere) Menschen als die damaligen, ist – egal in welcher Zeit wir dieses Damals ansiedeln – die Dummheit schlechthin.
Nochmals: Was es nicht gibt und wovon man nichts weiß, kann einem nicht fehlen. Es gibt Wandel, es gibt ein Fortschreiten von dem, was war, aber keinen Fortschritt. Alles, was es gibt, ist das, was ist. Und es ist nie besser oder schlechter.
Veröffentlicht am 07.01.2025