Anmerkungen zu den „Ordnungen der Liebe“

Anmerkungen zu den „Ordnungen der Liebe“

Von Wilfried Nelles

Im Jahr 1994 hat Bert Hellinger mit dem Buch „Ordnungen der Liebe“ einen Begriff in die Welt gesetzt, der unter Familienaufstellern auch heute noch wie eine Art von Gesetz angesehen und verwendet wird. Als ich diesem Begriff – es war 1996 – zum ersten Mal begegnete, war ich ebenso verwundert wie fasziniert. Verwundert, weil es mir bis dahin nie in den Sinn gekommen war, dass Liebe etwas mit Ordnung zu tun haben könnte. Fasziniert, weil gerade dieser – scheinbare? – Widerspruch von Liebe und Ordnung und der Umstand, dass Bert Hellinger beides in einem Begriff zusammenfügte, mein Interesse weckte. Sollte es da etwas geben, was ich total übersehen hatte?

Nachdem ich das entsprechende Buch gelesen hatte, war für mich klar, dass dies meine Arbeit sein würde. Alles schien mir vollkommen stimmig und ging runter wie Butter. Nur an einem Punkt hat irgendetwas in mir nicht ganz mitziehen wollen: bei den „Ordnungen der Liebe“. Was Hellinger inhaltlich dazu sagte, schien mir zu stimmen, obwohl es teilweise sehr unscharf war, aber an dem Begriff stimmte etwas nicht, ohne dass ich damals sagen konnte, was das war. Also habe ich meine Arbeit „Ordnungen des Lebens“ genannt. Heute sehe ich deutlich, was ich damals eher ahnte.

1. Es gibt keine Ordnungen der Liebe. An diesem Begriff stimmt fast nichts. Es beginnt mit dem Wörtchen „der“, dem Genitiv. Das ist eindeutig falsch. Die Liebe hat keine Ordnung, Liebe ist – anfangs – chaotisch, spontan und wild oder auch, wenn sie ganz gereift ist, still, ruhig und weit – ein innerer Zustand, der, wenn die Liebe ganz bei sich selbst angekommen ist, grenzenlos wird. Das, was Hellinger als „Ordnungen der Liebe“ bezeichnet – die Zugehörigkeit, der Ausgleich, die Rangfolge – hat mit Liebe nicht das Geringste zu tun. Der Genitiv bedeutet sprachlich jedoch – und wird dann sicherlich auch inhaltlich so aufgefasst -, dass diese Ordnungen zur Liebe gehören. Die Rangfolge – Eltern kommen vor den Kindern, das erste Kind vor dem zweiten usw. – zum Beispiel gilt auch an der Supermarktkasse. Es ist eine soziale Ordnung, die mit Liebe überhaupt nichts zu tun hat. Dasselbe gilt für den Ausgleich. Wenn ich jemanden berate, bezahlt er mich dafür – ganz unabhängig davon, ob ich ihn liebe oder nicht. Wenn er bezahlt, sind wir quitt, wenn nicht, entstehen Schuld und Abhängigkeit. Das wusste natürlich auch Bert Hellinger, aber er hat dem begrifflich nicht Rechnung getragen.

2. Hellinger hat in einer seiner berühmten bildhaften Beschreibungen die Liebe mit dem Wasser und die Ordnung mit dem Krug verglichen. Wenn das Wasser keinen Behälter hat, zerfließt es einfach. Erst der Krug, also die Ordnung, gibt dem Wasser (der Liebe) Halt und macht es nutzbar. Das stimmt, aber das Bild zeigt auch, dass Liebe und Ordnung zwei ganz verschiedene, voneinander unabhängige Dinge sind, denn Krug und Wasser haben zunächst einmal nichts miteinander zu tun. In einem Krug kann ich alles Mögliche sammeln, unter anderem auch Wasser. Es mag nützlich sein, sie zusammen zu bringen, aber sie gehören nicht ursprünglich zusammen. Korrekterweise hätte es also heißen müssen: „Ordnungen für die Liebe“ oder, besser noch, „Ordnungen in Beziehungen“.

3. Das Bild zeigt noch etwas zweites, nämlich Hellingers statische Sichtweise (die er später aufgegeben hat). Das Wasser im Krug steht, und wenn Wasser lange steht, beginnt es zu faulen und zu stinken. Was sagt uns das über die Liebe in Beziehungen? Fängt sie nicht auch an zu faulen, wenn man sie in eine statische Ordnung zwängt, wie es dann bei den „klassischen“ Familienaufstellungen tatsächlich gemacht wurde / wird?

Ich habe deshalb schon in meinem ersten Buch über Familienaufstellungen, in „Liebe, die löst“, im Jahr 2001 ein anderes Bild für die Beziehung der beiden Elemente Liebe und Ordnung vorgeschlagen, nämlich das vom Fluss und der Landschaft (den Ufern), die ihn begrenzt. Dieses Bild wird Hellingers Anliegen gerecht, dass Liebe ohne Ordnung nicht gedeihen kann, es macht aber auch deutlich, dass beides immer in einem Konflikt miteinander liegt. Genauer: Der Fluss fügt sich einerseits der Landschaft und seinen Grenzen, lehnt sich aber auch immer wieder dagegen auf und verändert die Landschaft / den Flusslauf damit. Man könnte hier von einer dynamischen Ordnung sprechen. Das wird der Wirklichkeit der Liebe viel gerechter und macht das Übertreten der Ordnung (die gelegentliche Überschwemmung der Ufer oder auch die ständige Reibung zwischen Fluss und Ufer und damit die ständige Veränderung von beiden) deutlich. Leider ist dieser Vorschlag nie aufgegriffen worden, wahrscheinlich hat ihn noch nicht einmal jemand zur Kenntnis genommen.

Zusammengefasst: Das, was Hellinger als „Ordnungen der Liebe“ bezeichnet, hat mit Liebe nichts zu tun. Im Gegenteil: Diese Ordnungen sind der Liebe vollkommen fremd. Weder der Ausgleich von Geben und Nehmen noch die Rangfolge nach der Zeit noch die Zugehörigkeit zu einem System hat auch nur die geringste Verbindung zur Liebe. Wir können auch Menschen lieben, die nicht zu unserem „System“ gehören. Bei der erotischen Liebe ist das sogar die Voraussetzung. Und wir können auch lieben, ohne etwas dafür zu bekommen. Mehr noch: das ist erst wirklich Liebe, wenn man nichts erwartet. Der Lohn liegt in der Liebe (im Lieben) selbst. Die Idee (Hellinger: das „Gesetz“) des Ausgleichs von Geben und Nehmen, so wie Hellinger sie postuliert, ist in einer Liebesbeziehung sogar destruktiv und ganz fehl am Platz. Sie gehört in die Welt der gesellschaftlichen Beziehungen und macht, wie ich in meinem Buch „Männer, Frauen und die Liebe“ ausführlich dargelegt habe, eine Liebesbeziehung zu einem Geschäft oder einer Vertragsangelegenheit.

Etwas anderes wäre es, wenn Hellinger gesagt hätte: Die Liebe braucht eine gewisse Ordnung, um gedeihen zu können. Ich denke, das war es auch, worauf er hinweisen wollte und was sich auch in den Aufstellungen zu zeigen scheint. Dann kann man aber nicht so tun, als wenn die Ordnungen ein Bestandteil der Liebe wären, wie es der Begriff suggeriert. Und ich schreibe bewusst „zu zeigen scheint“. Denn was wir sehen, betrifft nicht die Liebe, sondern die Beziehung. Beziehungen dürften, wenn Rangfolge, Ausgleich und Zugehörigkeit beachtet werden, stabiler sein. Über die Liebe sagt dies aber nichts aus.

4. Neben dem Begrifflichen wird die Vorstellung von Ordnungen der Liebe auch inhaltlich dem Leben und der Liebe nicht gerecht. Die Ordnungen sind nicht nur statisch, sondern sie sind auch kindlich. Sie fixieren die Liebe auf etwas Kindliches. Das gilt besonders für die wichtigste dieser so genannten Ordnungen, für die Zugehörigkeit.

Zunächst einmal: Es gibt kein „Recht“ auf Zugehörigkeit (wie es Hellinger oft formuliert hat und viele es ihm nachsprechen). Es gibt im Leben und in der Liebe überhaupt keine Rechte, keinen Anspruch auf etwas. So etwas wie Ansprüche oder Rechte haben in der Psychologie nichts verloren. Auch ein Kind hat kein Recht, zur Familie zu gehören. Es hat sicher das tiefe Bedürfnis, aber das ist etwas anderes. Und es ist eine Tatsache, dass es, ob die Eltern (oder wer auch immer) dies einsehen oder nicht, zur Familie gehört. Diese Tatsache kann man in Aufstellungen sichtbar machen. Davon geht eine sehr heilsame Wirkung aus, aber nicht von der Idee, dass man ein Recht auf etwas hätte, und auch nicht von der Idee und der daran anknüpfenden Praxis, die Zugehörigkeit (ebenso wie die anderen Ordnungen) mittels Aufstellungen und darin eingeschlossenen rituellen Handlungen und Sätzen herstellen zu müssen.

5. Vor allem jedoch endet die Zugehörigkeit (zur Herkunftsfamilie) mit dem Erwachsenwerden. Natürlich nicht in dem Sinne, dass ich jetzt nicht mehr Teil meiner Familie bin, aber in dem, dass ich sie – dies beginnt schon mit dem Eintritt in die Pubertät – jetzt verlassen muss. Und in dem, dass es dann – ganz anders als beim Kind – für mich und meine Entwicklung, auch für meine Seele, keine Rolle mehr spielt, ob ich nicht nur faktisch, sondern auch in dem Sinne dazugehöre, dass meine Eltern (oder auch Geschwister) mich voll akzeptieren oder nicht. Im inneren Zustand des Erwachsenseins, für ein erwachsenes Bewusstsein, ist dies irrelevant. Ebenso wie ein Kind nicht mehr die Symbiose (das ist die vorgeburtliche Weise der Zugehörigkeit zur Mutter) braucht, wie es das Essen und den Sauerstoff der Mutter nicht mehr braucht, um leben zu können, weil es jetzt selbst essen und atmen kann, so braucht auch ein Erwachsener seine Herkunftsfamilie und all die Dinge (Ordnungen), die für ein Kind wichtig waren, nicht mehr.

Auch die Zugehörigkeit (das Hereinnehmen) verstorbener Familienmitglieder ist ein kindliches Bedürfnis. Ein Kind braucht und wünscht sich immer Vollständigkeit und Harmonie. Zum Erwachsenwerden gehört es dazu, zu erkennen und dann auch zu akzeptieren, dass es dies im Leben nicht gibt. Wer tot ist, ist nicht mehr da, nicht mehr unter den Lebenden und gehört in diesem Sinne auch nicht mehr dazu. Mit dieser Lücke muss man leben, einem Erwachsenen muss und kann man dies auch zumuten. Die Toten (in einer Aufstellung) wieder dazu zu nehmen bedeutet, so zu tun, als ob sie noch lebten und die Tatsache ihres Verschwindens zu verwischen. Anstatt sie per Aufstellung wieder ins Leben zu zerren und ihnen – was faktisch überhaupt nicht geht – (wieder) „einen Platz in der Familie“ zu geben, sollte man dem christlichen Totengebet folgen und sie in Frieden ruhen lassen. Das gilt auch für das innere Bild. Wirklicher seelischer Frieden tritt erst dann ein, wenn man die Toten ganz tot sein lässt, so dass man sie schließlich vergessen kann. Das Vergessen – ich rede nicht vom Verdrängen! – ist die Lösung, nicht das ständige Erinnern! Wenn bei uns – in erster Linie mir und meinem Sohn Malte, dann aber auch in den übrigens Nelles Instituten – überhaupt noch ein Verstorbener aufgestellt wird, dann nur, um ihn ganz und für immer zu verabschieden, um die faktisch bereits geschehene Trennung und den Abschied auch seelisch, geistig und emotional nachzuholen, soweit dies bisher noch nicht gelingen konnte. „Anerkennen, was ist“, hieß das einmal – es wurde nur nicht ganz Ernst genommen, auch von Hellinger nicht immer.

6. Erwachsene Harmonie ist – man kann dies auch in der Musik oder generell in der Kunst sehen – immer das Einbeziehen des Nicht-Harmonischen und der Unvollständigkeit (nur esoterische Musik ist total harmonisch und damit vollkommen platt). Wenn das Leben ganz harmonisch und vollständig wäre (wie ein Kind es sich wünscht), wäre es tot, denn alle Bewegung kommt aus der Unvollständigkeit. Insofern ist eine Aufstellungsarbeit, die – wie es im klassischen Familienstellen der Fall war – auf ein vollständiges Schlussbild (die „gute Lösung“) hin arbeitet, kindlich. Sie folgt den kindlichen Wunschvorstellungen von Klient wie Therapeut. Dass bei einem solchen Ergebnis alle glücklich sind und in der Aufstellung sagen „So fühlt es sich richtig an“, besagt nur, dass alle in ihren kindlichen Wünschen zufriedengestellt sind. Deshalb sind in Familienaufstellungen auch alle immer so gerührt und nah am Wasser. Wirkliche Tiefe macht nur still.

7. Liebe ist unverfügbar und zugleich immer „in Ordnung“. Tatsächlich sind es gerade die Unverfügbarkeit und die ständige Reibung mit ihr äußerlichen Ordnungen und manchmal auch die Sprengung früherer Ordnungen, die die Liebe zur Reife führen. Am Ende ist sie selbst die Ordnung, die einzige, der zu folgen sich lohnt.

Wilfried Nelles, 06.12.2021

 

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