Wachstum aus dem Inneren des Lebens heraus

Wachstum aus dem Inneren des Lebens heraus

Interview von Angelika Prauß (KNA) mit Wilfried Nelles

Bonn (KNA): Wann ist man erwachsen, wie wird man ein reifer Mensch? Mit solchen Fragen beschäftigt sich der Psychologe Wilfried Nelles in seinem Buch „Die Welt, in der wir leben. Das Bewusstsein und der Weg der Seele“. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht Nelles über die pubertierende Menschheit und seine Hoffnung auf ein reiferes Bewusstsein.

KNA: Herr Dr. Nelles, formal ist man bei uns mit 18 volljährig. Die innere Reife und Reifung hinkt meist hinterher – wann ist man wirklich erwachsen?

Nelles: Wenn man in der Wirklichkeit des Lebens angekommen ist und sein ganzes Leben, inklusive aller Defizite und Schwächen, annehmen kann. Erwachsen bin ich, wenn ich das Ja zu mir selbst nicht mehr von der Anerkennung durch andere abhängig mache. Es muss aus dem eigenen Inneren kommen – aus der Einsicht, dass man nicht anders sein kann als man ist. Damit ist der Kampf vorbei, sowohl der Kampf mit den anderen als auch der mit sich selbst.

KNA: Sie verstehen das Erwachsenwerden und Leben überhaupt als Art Ent-Wicklung von etwas, das schon im Embryo angelegt ist. Wie kann sie gelingen?

Nelles: Unser körperliches Wachstum findet von selbst statt; wir fangen an als ein Punkt, der so klein ist, dass man ihn gar nicht sehen kann – und dennoch ist darin bereits der gesamte Mensch enthalten. Das innere, geistige Wachstum geschieht ähnlich, deckt sich aber meist nicht mit dem biologischen Wachstum. Es erfolgt vielmehr oft verzögert, wenn die Zeit reif und der Mensch bereit dazu ist. Dann geschieht das geistige Wachstum genauso wie das körperliche Wachsen aus dem Inneren des Lebens heraus von selbst.

KNA: Sie sehen Parallelen zwischen der individuellen Entwicklung jedes Einzelnen – vom Mutterleib bis zum Tod – mit der Entwicklung der Menschheit an sich. Können Sie das erläutern?

Nelles: Das Bewusstsein des Menschen – also die Art und Weise, wie der Mensch sich in der Welt sieht, wie er sich darin fühlt, wie er die Welt betrachtet – durchläuft im übertragenen Sinne ebenfalls die Phasen Mutterleib, Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter.

KNA: Wie meinen Sie das konkret?

Nelles: Im Kollektiven stehen etwa die Traumzeit der australischen Ureinwohner oder der christliche Garten Eden für die Zeit des Mutterleibes. Hier ist ohne unser Zutun für alles gesorgt; die Menschen fühlen sich als Einheit mit der Natur. Das entspricht der Einheit des ungeborenen Kindes mit der Mutter im Mutterleib. In der zweiten Stufe der Menschheitsentwicklung nehmen wir uns als getrennt von der Natur wahr, die wir nun als „Mutter“ Erde erkennen. In dieser Phase sind alle großen Religionen entstanden; zugleich wird der Mensch langsam selbstständiger von der Mutter. Und in der Jugend distanziert sich der Mensch immer mehr von ihr und den Eltern.

Ich arbeite viel im asiatischen Raum. Dort erlebe ich diesen abstrakt klingenden Konflikt sehr anschaulich. Noch überwiegt dort eine kindliche Lebenshaltung, nach dem Motto: Wir müssen den Eltern, wir müssen dem Staat gehorchen. Mit der Globalisierung hat sich dort aber viel geändert, hin zu der jugendlichen Haltung: Wir wollen endlich frei sein und tun, was wir wollen.

KNA: Ein fester Rahmen gibt auch Sicherheit. Heute scheint es an festen Orientierungspunkten beim Heranwachsen zu fehlen…

Nelles: In Stammesgesellschaften wurde der Übergang ins Erwachsenenleben durch Initiation vollzogen: Der Einzelne bekam seine Rolle in dem Stamm und hatte damit seinen festen Platz.

Das geht in der modernen Welt nicht mehr, weil sich die Welt ständig ändert und es keine festen Plätze und Ordnungen mehr gibt. Anstatt uns in die Welt einzufügen, wie sie ist, wollen wir Modernen, dass sich die Welt uns anpasst – sie soll so sein, wie ich sie haben will. Daraus resultieren all unsere modernen Konflikte. Jeder zimmert sich im Inneren seine eigene Welt zurecht und will sie anderen überstülpen, statt sie neben anderen Weltentwürfen zu akzeptieren.

KNA: Die Jugend ist geprägt von dem „Auf der Suche sein“; zugleich ist sie eine Zeit tiefster Unsicherheit. Was „macht“ das mit einer Gesellschaft, wenn die Menschen gefühlt noch nicht erwachsen sind?

Nelles: Um in sein eigenes Leben eintreten zu können, muss man sein Elternhaus verlassen. Zugleich hat man aber noch nicht die Reife, sich allein in der Welt zu bewegen. In dieser Verlorenheit muss sich der Jugendliche eine Stütze suchen, damit er damit klarkommt. Daher entwickelt er Ideen, wie das Leben sein soll. In der modernen Welt nennt man das „Werte“. Das ist aber nicht wirklich etwas Eigenes, meist sind es Gegenentwürfe gegen die alte Welt der Kindheit, gegen das, was die Eltern tun oder getan haben. Am Ende lebt dann jeder in der Welt seiner Ideen und misst die Wirklichkeit daran.

Ein Beispiel: Eine Partnerschaft oder der Partner werden nicht akzeptiert, wie sie sind, sondern müssen unserer Idee entsprechen, wie der andere oder wie eine Liebesbeziehung sein soll. Das erzeugt Leid, weil die Wirklichkeit sich nicht um unsere Ideen schert, und unsere Partner sich nicht sagen lassen wollen, wie sie sein sollen.

KNA: Aber auch von uns selbst haben wir genaue Vorstellungen und wollen uns optimieren…

Nelles: Wir nehmen uns nicht so, wie wir sind, sondern arbeiten an uns, um einem Bild zu entsprechen – sei es ein kollektives, sei es ein scheinbar individuelles. Das geht bis ins Körperliche hinein: Mein Körper, ja sogar mein Geschlecht, muss meinen Vorstellungen entsprechen, dem, wie ich sein will. Damit scheitert man. Das ist der tiefe Grund für Depressionen und viele andere moderne Krankheiten. Nicht umsonst zählen bei uns Depressionen, Burnout und Süchte zu den gefährlichsten Krankheiten. Heute sterben mehr Menschen durch Suizide als durch Kriege.

KNA: Mit Blick auf die derzeit großen Herausforderungen wie Klimawandel und Corona – wäre nicht gerade jetzt eine „erwachsene“, besonnene Haltung beim Umgang mit Krisen angebracht?

Nelles: Durchaus. Die Menschheit steht derzeit kurz vor dem Abgrund und befindet sich wie ein Pubertierender in einer unglaublichen Krise. Der junge Mensch verliert fast alles, was ihm als Kind wert war. Er muss in eine Welt hinein gehen, die ihm sehr fremd ist, alte Konzepte und Vorstellungen müssen dafür sterben. Es ist wie bei einer Geburt: Zuerst geht das Alte – die Einheit mit der Mutter – nicht mehr, und dann kommt erst das Neue, das Leben da draußen.

Das ist meine Hoffnung, wenn ich auf die Welt schaue. Insofern bergen die heutigen Krisen auch eine große Chance auf Wachstum. Wir werden sie aber nur dann überstehen, wenn wir nun neue Wege finden und in der Krise selbst erneuert werden und umdenken.

KNA: Wenn Ihre These stimmt – wird die Menschheit überhaupt ihr Erwachsenenalter erreichen? Oder werden wir uns vorher längst die Köpfe eingeschlagen haben?

Nelles: Wir wachsen alle nur durch Krisen. Wenn ein Kind Fieber bekommt, steht der nächste Wachstumsschub bevor; und wenn das Fieber vorbei ist, sieht man, es ist etwas Neues passiert. Auch im weiteren Leben ist das so. Wir kriegen unseren Hintern erst dann hoch, wenn etwas in unserem Leben zusammenbricht. Nur so kann etwas Neues entstehen. In der Gesellschaft können solche Krisen durchaus sehr heftig sein. Es wäre fast ein Wunder, wenn dies einigermaßen friedlich über die Bühne ginge.

KNA: Also birgt auch die Corona-Pandemie auch Potenzial?

Nelles: Die Pandemie ist aus psychologischer Sicht ein unglaubliches Ereignis; zum ersten Mal wird die ganze moderne Welt von einem Ereignis derart getroffen. Ich habe keinen Zweifel, dass es Veränderungen gibt. Wenn unsere Lebenskonzepte von außen derart durcheinander gebracht werden, dann müssen wir uns völlig neu berappeln und von innen heraus neu ausrichten. Somit wird die Corona-Krise nicht nur äußere, sondern auch große innere Veränderungen bewirken. Wie die konkret aussehen, kann derzeit aber noch niemand sagen – aber der Klimawandel wird Corona wahrscheinlich noch mal toppen.

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Interview von Angelika Prauß (KNA) mit Wilfried Nelles vom 02.07.2020
© KNA-Katholische Nachrichten-Agentur GmbH

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Wilfried Nelles: Die Welt, in der wir leben. Das Bewusstsein und
der Weg der Seele, Innenwelt Verlag, Köln 2020, 354 Seiten, 25 Euro.

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Wachstum aus dem Inneren des Lebens heraus