Warum nicht einfach die Polarisierung stoppen?

Warum nicht einfach die Polarisierung stoppen?

Gastbeitrag von Coen Aalders

Fast alle Politiker beschuldigen einander der Polarisierung und behaupten, wenn man damit aufhören würde, wäre die politische Debatte wieder inklusiv und substanziell. Klingt einfach, nicht wahr?

Der Begriff „Polarisierung“ stammt ursprünglich aus dem Französischen und bedeutet „elektrische Aufladung“, also ein rein technischer Ausdruck. Heutzutage nutzen wir ihn, um die zunehmenden sozialen Spannungen zu beschreiben, die in den letzten Jahren rasant gestiegen sind. Polarisierung ist zu einer weitverbreiteten Sorge geworden.

Das Institut für Sozialforschung warnte kürzlich: „Die Niederländer sind zunehmend besorgt über den rauer werdenden Ton in den Debatten und haben die ständigen Streitereien in der Haager Politik satt.“ Eine Regierungskampagne im Januar 2023 vermittelte jedoch die Idee, dass nicht die Politiker, sondern die Bürger für die Polarisierung verantwortlich seien. Die Kampagne enthielt Tipps wie „Zählen Sie bis zehn, wenn Sie das Gefühl haben, etwas Unfreundliches sagen zu wollen.“

Doch ein reines Schuldzuweisungsspiel führt nicht zum Ziel. Polarisierung ist weitaus tiefgreifender – sie ist eine eigenständige Kraft und spiegelt den Geist unserer Zeit wider. Solange wir sie nur als Verhaltensproblem betrachten, werden wir keine wirksame Lösung finden.

Zeitgeist: Der Geist einer Epoche

Der Begriff „Zeitgeist“ bezeichnet die kollektive Denkweise oder das (Unter) Bewusstsein einer bestimmten Epoche. Er umfasst die Werte, Normen und Vorstellungen, die die Menschen zu einer bestimmten Zeit prägen, und zeigt sich auch in alltäglichen Aspekten wie Mode oder Ernährungstrends. So war es etwa bis in die 1950er Jahre hinein üblich, Hüte zu tragen, und 1964 galt eine Mahlzeit ohne Fleisch als undenkbar. Diese Vorstellungen haben sich im Laufe der Zeit grundlegend verändert. Ebenso selbstverständlich wie das Frauenwahlrecht heute ist, war es 1883 in den Niederlanden nicht einmal ein Thema der Diskussion.

Mit dem Abstand der Zeit können wir den Geist vergangener Epochen klarer erkennen. Der Begriff „viktorianisch“ weckt etwa sofort Assoziationen an die strengen Kleiderordnungen und die formelle Etikette des Englands im späten 19. Jahrhundert. In den Niederlanden sind die 1950er Jahre und ihr konservativer, spießiger Lebensstil untrennbar verbunden mit dem „Geruch von gekochtem Rosenkohl“.

Doch das kollektive Bewusstsein der eigenen Gegenwart zu begreifen, ist weit schwieriger, denn wir sind ein Teil davon. Wir sind der Zeitgeist. Man kann kaum etwas beobachten, mit dem man sich identifiziert – so wenig, wie man seine eigene Einsamkeit objektiv wahrnehmen kann, während man einsam ist. Es bedarf einer gewissen Distanz, um diese Perspektive einzunehmen. Genauso wie ein erheblicher Teil des individuellen Bewusstseins unbewusst bleibt, dürfte auch ein großer Teil des kollektiven Bewusstseins unbewusst wirken. Das macht es schwer, das, was gerade geschieht, in seiner Gesamtheit zu erfassen.

Aus diesem Grund ist es plausibel, dass wir die Polarisierung nicht vollständig verstehen. Zwar herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Polarisierung etwas Negatives ist, dennoch nimmt sie weiterhin zu. Gibt es möglicherweise etwas Tieferes, Verborgenes im Unbewussten unseres Zeitgeistes, das sie antreibt? Was übersehen wir? Was ist unser blinder Fleck? Vielleicht können wir diesen erkennen, wenn wir uns offen und unvoreingenommen mit den Phänomenen unserer Zeit auseinandersetzen.

Die Entstehung der Moderne

Der gesellschaftliche Übergang zur Moderne begann in den 1960er- und 1970er-Jahren, symbolisiert durch kulturelle Phänomene wie die Beatles. Es war eine Zeit des Aufbruchs, geprägt von dem befreienden Gefühl, die engen, erstickenden Grenzen alter Familienstrukturen, religiöser Institutionen und kleiner Gemeinschaften hinter sich zu lassen. Der Abschied von Gott war zugleich eine Begrüßung einer neuen Idee: Männer wie Frauen sollten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Individuelle Freiheit, rationales Denken sowie der Fortschritt von Wissenschaft und Technik eröffneten die Hoffnung, das eigene Leben eigenverantwortlich zu gestalten.

Die kulturellen Ausdrucksformen dieser Ära – leuchtende Farben, kühne Formen, innovative Musik – spiegelten eine Welle kreativer Energie wider. Für viele bedeutete dies eine tiefgreifende Befreiung.

Die Moderne basierte auf der Hypothese, dass all diese freien Individuen harmonisch zusammenleben könnten, geleitet von Gleichheit und Vernunft. Man glaubte daran, dass durch Rationalität die Gesellschaft effizient und ideal gestaltet werden könne – wirtschaftlich, sozial und kulturell. Das war genau die Definition des “homo oeconomicus”. Das offensichtliche Ergebnis wären Persönliches Wachstum, Glück und Wohlstand. Dieser Glaube war keineswegs völlig naiv, denn die Menschheit besitzt ein großes Potenzial für das Gute. Dennoch war er unvollständig.

Der Zeitgeist heute: Das ambivalente Selbst

Heute jedoch stehen wir dem Erbe der Moderne mit Ambivalenz gegenüber. Denn einiges haben wir übersehen: Wahre Freiheit kann nur innerhalb bestimmter Grenzen existieren. Natürlich schätzen wir Gleichheit, doch wir benötigen auch Strukturen und damit Differenzierung. Und gewiss kann Individualität nur in Gemeinschaft gelebt werden. Außerdem vermag die Vernunft allein weder Sinn noch emotionale Tiefe zu bieten. „1 + 1 = schön“ ist kein Gedanke, der sich rational erklären lässt.

Was einst offensichtlich erschien – dass die Essenz des modernen Bewusstseins in der individuellen Freiheit liegt und dass all diese freien Individuen eine perfekte Welt erschaffen würden – hat sich nicht bewahrheitet. Auch wenn wir unsere Freiheiten ausgeschöpft haben, bleiben wir unzufrieden, und die Welt ist weit entfernt von Perfektion.

Die Utopie eines modernen Paradieses scheint heute unerreichbar. Therapeutenpraxen sind überfüllt, und wir betäuben uns mit Konsum – sei es durch Spiele, Sex oder Drogen. Wir lachen auf Instagram durch unsere Verzweiflung und amüsieren uns im Reality-TV über das Scheitern anderer, ohne zu bemerken, dass wir uns eigentlich über uns selbst lustig machen.

Das Ego, das moderne Selbst, ist zur dominierenden Identität unserer Zeit geworden. Doch diese Identität findet in Freiheit allein keine Erfüllung. Tatsächlich empfinden wir Freiheit oft als Bürde. Das Ich ist glücklich, wenn es Bestätigung von außen erhält, und unglücklich, wenn die „Likes“ ausbleiben. Hier liegt das zentrale Missverständnis der Moderne: Die Essenz unserer Zeit ist nicht individuelle Freiheit und Rationalität – sie ist Ambivalenz.

Ambivalenz und Polarisierung

Die ambivalente Natur des Selbst hat tiefgreifende Konsequenzen für unser Zusammenleben und unsere Kommunikation. Ihre Auswirkungen sind so weitreichend, dass wir sie oft nur teilweise wahrnehmen und nur schwer vollständig begreifen können. Polarisierung ist eine der deutlichsten Folgen dieses ambivalenten Ichs, doch es gibt noch andere, darunter unsere Wahrnehmung von Wahrheit, Verantwortung, Verschwörungstheorien und der Richtung, in die sich die Gesellschaft bewegt. Um dies zu verstehen, bedarf es einer breiteren, systemischen Perspektive auf den westlichen Zeitgeist. Was zeigt sich, wenn wir dies tun?

Was ist Polarisierung?

Das ambivalente Selbst sehnt sich nach Aufmerksamkeit und findet nur in ihrer Gegenwart Ruhe. Die Technologie hat uns weltweit miteinander vernetzt und Milliarden von Menschen eine Stimme gegeben, die gehört werden möchte. Doch je mehr Stimmen zu hören sind, desto größer wird das entstehende Chaos. Technologien wie soziale Medien verstärken diesen Ruf nach Aufmerksamkeit. Sie vergrößern die Reichweite einzelner Meinungen fast augenblicklich, entziehen diesen Meinungen jedoch den Kontext und reduzieren sie auf isolierte Fragmente.

Das Ergebnis ist eine gigantische, turbulente Masse an Lärm, in der Meinungen aufgrund ihrer schieren Menge und Geschwindigkeit nahezu bedeutungslos erscheinen. In diesem Informationsstrudel ist es kaum überraschend, dass extreme Positionen besonders hervortreten. Sie sind oft die einzige Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erregen. Dies führt zwangsläufig dazu, dass extreme Meinungen gegensätzliche Extreme provozieren. Das Zentrum dieser Diskussionen bleibt leer, und je weiter die Extreme voneinander entfernt sind, desto größer und hohler wird dieses Zentrum.

Polarisierung und ihre potenziell schwerwiegenden Folgen

Das Zentrum zerfällt: Die berühmte Zeile “The centre cannot hold” aus William Butler Yeats’ Gedicht The Second Coming, geschrieben nach dem Ersten Weltkrieg, bringt das Phänomen treffend auf den Punkt. Das Zentrum – das Verbindende, die Brücke zwischen Extremen – löst sich auf. In der Folge droht das gesamte gesellschaftliche Gefüge zu kollabieren.

• Dialoge verschwinden: Ein echter Dialog ist eine Begegnung, die in der Mitte stattfindet, wo extreme Ansichten zumindest hinterfragt werden können. Ohne diese Mitte wird der Dialog selbst immer seltener.

• Inhaltliche Themen treten in den Hintergrund: Statt über Werte, Interessen und fundierte Entscheidungen zu diskutieren, wird die Polarität selbst zur treibenden Kraft. Oft scheint es wichtiger, dem “anderen Lager” nicht nachzugeben, als eigene, authentische Standpunkte zu entwickeln. Dies führt zu unauthentischen, reaktiven Positionen.

• Die Tyrannei des Individuums: Was in den 1970er-Jahren als Befreiung von kollektiven Zwängen und als Emanzipation des Individuums gefeiert wurde, entwickelt sich zunehmend zu einer Diktatur des Ichs.

• Das Fehlen eines verbindenden Prinzips: Ohne ein übergeordnetes Prinzip geraten viele Diskussionen in Sackgassen. Entscheidungen werden verzögert, und Kompromisse bleiben halbherzig. Ein gemeinsames, verbindliches Prinzip ist jedoch essenziell, um kurzfristige Anpassungen auf dem Weg zu einem kollektiven Übergang in eine realistische und greifbare Perspektive einzubetten.

Was ist Wahrheit, und was ist Verschwörung?

Im Strudel der Meinungen verlieren Daten und Ansichten zunehmend ihre Bedeutung. Ansichten stehen in ihrer Isolation und Masse nicht mehr in Beziehung zueinander, sodass Wahrheit und Unwahrheit kaum noch voneinander zu unterscheiden sind.

Begriffe wie „Wahrheit“ und „Unwahrheit“ setzen jedoch einen Bezugsrahmen voraus, der größer und höher ist als das Ego. Doch das Ego, getrieben von seinem Ausdrucksbedürfnis, definiert sich mühelos als absolut. Für das Ego existiert kein anderer Maßstab als seine eigene Wahrheit und der Kampf mit anderen Egos um Aufmerksamkeit.

Die zentrale Frage lautet: Können Wahrheit und Unwahrheit in diesem Chaos noch objektiv definiert werden? Haben sie überhaupt noch Bestand? In einer sozialen Realität, in der diese Konzepte zu rein individuellen Begriffen geworden sind, stellt sich die Frage, ob sie noch von Nutzen oder Bedeutung sind.

Ein anderer und weiterer Mechanismus kommt hinzu: Das, was die meiste Aufmerksamkeit erlangt, wird zur „Wahrheit“. Wer es schafft, öffentliche Aufmerksamkeit durch Inszenierungen oder gar Lügen zu gewinnen, erzeugt Realität. Aufmerksamkeit schafft Bedeutung.

Aus diesem Durcheinander individueller Wahrheiten und kollektiver Bedeutungslosigkeit lässt sich auch die wachsende Faszination für Verschwörungstheorien erklären.

Natürlich existieren Verschwörungen tatsachlich, wenn man sie klassisch versteht: geheime Pläne von Bösewichten mit finsteren Zielen. Doch die meisten vermeintlichen Verschwörungen entsprechen diesem Bild nicht. Vielmehr handelt es sich oft um Projektionen: die politisierte Justiz, der „tiefe Staat“, der faschistische Populist oder der Bauer als geldgieriger Naturzerstörer – all diese Bilder sind Konstruktionen unseres Geistes.

Verschwörungstheorien sind Projektionen eigener Entfremdung und subjektiver Absolutheit auf andere. Beide Seiten – die Verschwörungsgläubigen und ihre Gegner – sind im Strudel gespaltenen Meinungen gefangen. Beide halten ihre eigene Position und Rationalität für unerschütterlich. Und beide begegnen der „Unwahrheit“ der anderen Seite mit Unverständnis. Es fehlt jeglicher Kontakt, jeglicher gemeinsame Bezugsrahmen mit Orientierungspunkten. Wir schauen durch das dreifach isolierte Glas unserer eigenen Blase auf die der anderen und verstehen nicht, was sich in ihrer Welt abspielt. Was uns fremd bleibt, erscheint uns daher irrational oder gar feindselig.

Und selbstverständlich ist die intellektuelle Elite häufig davon überzeugt, im Besitz der objektiven Wahrheit zu sein. Doch auch wenn sie sich als Vertreter einer anderen Ordnung wahrnimmt, ist sie dennoch ein Objekt des modernen Bewusstseins – genauso wie die breiten Massen, die sie zu überblicken glaubt.

Was ist Verantwortung?

Verantwortung zu übernehmen bedeutet, einen Maßstab anzuerkennen, an dem individuelles Verhalten, sei es politisches oder unternehmerisches Handeln, gemessen werden kann. Es setzt die Existenz eines höheren, kollektiven Bedeutungsrahmens voraus, der uns hilft, Handlungen zu bewerten.

Für das Ego hingegen ist Selbstreflexion eine rein persönliche Angelegenheit. Ob es sich um ein Verbrechen, einen politischen Fehltritt oder eine Meinungsänderung handelt – die Bewertung bleibt subjektiv. Es interpretiert sein Handeln aus der eigenen Perspektive und den damaligen Umständen. Die Tat war zu diesem Zeitpunkt, unter diesen Umständen und an diesem Ort absolut logisch und vernünftig. Die Tatsache, dass es später erkennbar andere Ansichten über diese Handlung gibt, ändert für das Ego nichts daran.

Es ist, als würde man sich in einem Jahr für einen Urlaub in einem Pariser Luxushotel und im nächsten Jahr für eine Schweizer Berghütte entscheiden – es erscheint persönlich stimmig, aber es ist schwer, es nach einem objektiven Maßstab zu rechtfertigen.

Das Ego akzeptiert keinen größeren Bezugsrahmen. Persönliche Meinungen und Handlungen validieren sich ausschließlich im Inneren. Dadurch wird Polarisierung endlos und grenzenlos, da das Ego nur sich selbst gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Kritik von außen wird oft als Grenzüberschreitung wahrgenommen, die das Ego nicht akzeptieren möchte. Selbst moderate Kritik wird schnell als persönlicher Angriff empfunden, was weitere Spaltungen begünstigt. Dies führt zu einem exponentiellen Anstieg von Konflikten und emotionalen Verletzungen.

Wir sind entschlossen, aber richtungslos

Ein auffälliges Merkmal des ambivalenten, aufmerksamkeitsheischenden Ichs ist das Fehlen einer stabilen Grundlage. Alles wirkt unsicher, ständig in Bewegung, wie die schnell wechselnden Modetrends oder politischen Bewegungen unserer Zeit.

Seit Jahrzehnten leben wir ohne eine äußere, gottgegebene Führung, und das Ego selbst fehlt es an innerer Orientierung. Jede Absicht oder jeder Plan scheint von externer Bestätigung abhängig: „Werde ich gesehen? Mache ich das richtig?“ Das macht jede Handlung von Bedingungen abhängig – sei es ein persönliches Vorhaben oder ein politisches Ziel. Unsere Denkweise ähnelt oft eher einem „Nein-es sei denn“ als einem „Ja-aber“, wodurch immer mehr Gründe für Ablehnung gefunden werden. Ohne innere Ausrichtung verharrt das Ego in einer grundsätzlich negativen Haltung.

Dieser Mangel an Orientierung erklärt auch den Aufstieg von Ideologien und Expertenautorität. Oder diese Orientierungslosigkeit führt zu Gefühlen der Hilflosigkeit, die manchmal in das andere Extrem umschlagen können: übermäßig entschlossene Handlungen. Wir sehen dies in Momenten vermeintlicher politischer Ohnmacht, in denen Politiker angesichts dringender Probleme sogar vorschlagen, die Demokratie zu umgehen.

Wenn wir keinen inneren Kompass haben, wenden wir uns Ideologien oder Autoritäten zu, um die Wahrheit zu erfahren. Leaders können in ihrer Verzweiflung übereilte Entscheidungen treffen und eine Politik vorantreiben, bei der Kosten, soziale Auswirkungen oder Nachhaltigkeit nicht berücksichtigt werden – Entscheidungen, die ein Schatzmeister eines örtlichen Fußballvereins nicht einmal akzeptieren würde. Wir scheinen dann aus der Sackgasse des Neins herauszukommen, aber die Dynamik bleibt ungerichtet, wird aber jetzt nach vorne eingesetzt.

Wohin geht unsere Aufmerksamkeit?

Die Art und Weise, wie das Ego agiert, erklärt nicht nur die Polarisierung, sondern auch, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richtet. Statt zu beobachten, projiziert der moderne Mensch sein Bedürfnis nach Bestätigung – die „Seht mich, hört mich“-Mentalität – auf seine Umgebung. In einer fragmentierten Welt erregen vor allem kleine, zusammenhangslose Details unsere Aufmerksamkeit. Das Ego fokussiert sich auf das, womit es sich identifizieren kann. So wird aus Descartes’ „Ich denke, also bin ich“ die egozentrierte Sichtweise „Ich sehe, was ich bin.“

Daher konzentrieren wir uns oft auf Trivialitäten wie das Privatleben oder die Hobbys von Politikern, statt auf ihre politischen Ziele. Wir widmen uns lieber den Kleidern von Kim Kardashian als globalen Krisen wie dem Krieg in der Ukraine. Der Begriff „Influencer“ steht perfekt für unseren verzweifelten Drang nach Aufmerksamkeit, denn unsere persönlichen Beobachtungen und Interpretationen sind nur dann von Bedeutung, wenn unsere Projektionen ein Ziel finden.

Gleichzeitig übersehen wir die großen Geschichten, tiefgreifenden Konflikte und entscheidenden globalen Veränderungen. Jahrhunderte Geschichte werden durch unsere oberflächliche, modische Brille beurteilt. Langsam eskalierende Krisen entziehen sich unserer Wahrnehmung – ähnlich wie die Eingeborenen Südamerikas die Schiffe von Kolumbus nicht wahrnahmen, weil sie keinen Begriff für „Schiffe“ hatten.

Fazit

Polarisierung ist die destruktive Ausdrucksform eines egozentrischen Bewusstseins, das auf individuelle Aufmerksamkeit ausgerichtet ist. Sie wird durch die Fragmentierung, Geschwindigkeit und Bedeutungslosigkeit der heutigen Informationsflut verstärkt. Wie oben erwähnt, ist es von Natur aus negativ geladen, weil es ambivalent ist.

Um sie zu verstehen, braucht es eine systemische Perspektive – nur so wird klar, dass sie viel zu komplex ist, um sie einer Person oder Gruppe zuzuschreiben.

Einfache Verhaltensregeln wie „Bis zehn zählen“ lösen das Problem nicht, denn sie greifen nicht die eigentlichen Ursachen an. Diese Art von Vorschlägen ist selbst ein Symptom des egozentrischen Bewusstseins, das sich nur auf Details konzentriert und die größeren Kräfte ignoriert.

Verhaltenskodizes oder Zensur können polarisierende Äußerungen nicht verhindern, ohne in prä-aufklärerische Muster zurückzufallen. So wie Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht, kann Bewusstsein nicht durch Manipulation gedeihen. Es mag betäubt, eingeschüchtert oder blockiert werden, aber zerstört werden kann es nicht – denn Bewusstsein ist die Essenz des Lebens selbst.

Es gibt keine einfachen Lösungen für die Polarisierung, die ein Phänomen unserer Zeit ist. Doch jede Lösung beginnt mit einer richtigen Diagnose und dem Loslassen von Illusionen über die Machbarkeit des Lebens. Wenn wir die Welt so sehen, wie sie wirklich ist, wird das Leben uns antworten.

Dieser Beitrag wurde ursprünglich am 24.07.2024 hier veröffentlicht.

Warum nicht einfach die Polarisierung stoppen?