Corona als psychologische und politische Krise
Das Corona-Virus bringt zu Tage, was im Verborgenen wirkt. So wie im persönlichen Leben vieler Menschen innere und zwischenmenschliche Konflikte offenkundig werden, ist auch die Psychologie unseres öffentlichen und politischen Lebens von der Pandemie betroffen. Die Herrschaft der Angst, die Spaltung der Wirklichkeit, in der wir leben, das Fallen in längst vorüber gedachte absolute Kategorien von richtig und falsch, gut und böse, die Spaltung zwischen dem, was wir vorgeben zu sein und unserem tatsächlichen Handeln sind einige der neurotischen Symptome, mit denen das Virus nicht die Körper der Menschen, sondern den öffentlichen Geist befallen hat. Eine psychologische Analyse des Geschehens vermag vielleicht ein wenig von dem ins Bewusstsein zu heben, was in Deutschland in der Auseinandersetzung mit Corona geschieht.
Inhalt:
1. Das Ende der Vielfalt
- „Einer muss dahinterstecken“ oder die kindliche Logik der Verschwörungstheorie
- Die Spaltung der Wirklichkeit
- Psychologie als Lehre der Selbstbewegung des Geistes
- Die absolute Alternativlosigkeit
- Der Ruf nach dem starken Vater
- Die Verabsolutierung des Diskurses am Beispiel der Maske
2. Plädoyer für einen erwachsenen Umgang mit Corona
- Es gibt keine Sicherheit
- Schluss mit idiotischen Maßnahmen
- Die Spaltung der Generationen
- Mit dem Virus leben
- Ein relatives Verhältnis entwickeln
- Die Bereitschaft zum Lernen
- Leben ohne Feinde
- Die letzte Erfahrung
1. Das Ende der Vielfalt
Wir sind in Deutschland im Spätsommer 2020. Zwei verdiente Wissenschaftler veröffentlichen ein populärwissenschaftliches Buch zu einer gesundheitlichen Bedrohung, die uns die erste längerfristige Aussetzung von Grundrechten seit dem zweiten Weltkrieg und den größten Wirtschaftseinbruch seit der Weltwirtschaftskrise 1929 gebracht hat. Das Buch landet nach der Veröffentlichung unmittelbar auf dem ersten Platz der Spiegel-Bestsellerliste. Ich selbst hätte hiervon wahrscheinlich zunächst nichts erfahren, hätte ich in einem sozialen Netzwerk nicht einen Post samt Verlinkung zu einem Interview mit den betreffenden Wissenschaftlern in den Kieler Nachrichten gesehen. Auf Seite 10 unter der Rubrik „Schleswig Holstein“ bekommen dort Karina Reiss, Professorin für Biochemie, Infektiologie, Zellbiologie und Medizin, und ihr Mann Sucharit Bhakdi, bis zu diesem Jahr hoch angesehener, mit vielen Preisen dekorierter Facharzt und Professor für Infektionsepidemiologie, den Platz auf den Regionalseiten für ein Interview eingeräumt. Auf den Webseiten der großen Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine, die ich regelmäßig lese (faz.net, zeitonline.de, spiegel.de, nzz.de und weitere), habe ich (Stand 12.8.2020) keinen einzigen Beitrag hierzu gefunden.
Die Schlüsse, die Reiss und Bhakdi in ihrem Buch (Titel: Corona-Fehlalarm? Zahlen, Fakten und Hintergründe) ziehen, mögen überzogen und an wahrscheinlich nicht wenigen Stellen falsch oder polemisch sein. Mit ihrer Diagnose einer immensen medizinischen und politischen Fehleinschätzung des Corona-Risikos sind sie aber nicht allein und können auf fundierte wissenschaftliche Quellen verweisen. Ich möchte hier als medizinischer Laie nicht in die allseitige Besserwisserei mit Zahlen und Studienergebnissen einsteigen. Mir geht es um das Phänomen, dass ein Beitrag von ausgewiesenen Fachleuten in der deutschen Öffentlichkeit behandelt wird, als würde er nicht existieren – und das mit Absicht. Denn angesichts der enormen Verkaufszahlen des Buches und der über allem stehenden Relevanz des Themas kann man nicht mehr davon sprechen, dass das Buch übersehen wurde: Es wird systematisch totgeschwiegen.
Dies erscheint umso erstaunlicher, wenn man es den angeblichen Werten gegenüberstellt, die die Zeit, in der wir leben, haben soll. Ein Begriff, der sich in anderen gesellschaftlichen Fragen in unserer Zeit als Ziel an sich darstellt, ist der der Diversity, zu Deutsch Vielfalt. Im Geschlechterverhältnis, der Ethnie, der sexuellen Orientierung, der Religion und vielem mehr liegt das kulturelle Leitbild unserer Zeit in der Anerkennung, Würdigung und teilweise auch expliziten Förderung von Unterschieden. Auf die inneren Widersprüche, die dieses Leitbild neben seinen emanzipatorischen Potentialen in sich trägt, muss an anderer Stelle eingegangen werden.
Für den Bezug zur Corona-Frage reicht es, sich zu vergegenwärtigen, dass die Akzeptanz von „Vielfalt“ angeblich eines unserer wichtigsten gesellschaftlichen Ziele sei. Doch was ist mit dem Vielfaltgrundsatz geschehen, wenn zwei verdiente Wissenschaftler seit fünf Monaten statt Gehör konsequent Ignoranz oder Diffamierung finden? Sie finden sich in ihren Beiträgen auf youtube zum Thema, in denen sie Studienergebnisse nach dem Stand der evidenz-basierten Medizin zitieren, in unmittelbarer Verlinkungsnähe zu Attila Hildmann und weiteren Idioten, die meinen, Echsenmenschen hätten uns das Virus geschickt und kontrollierten unsere Politik aus dem Inneren der Erde.
„Einer muss dahinterstecken“ – die kindliche Logik der Verschwörungstheorie
Eine psychologisch einfache Deutung in dem Umgang mit dem Phänomen der Ignoranz von Bhakdis und Reiss` Positionen in der deutschen Öffentlichkeit sucht nach den Verantwortlichen, die dafür sorgen, dass unbequeme Positionen mundtot gemacht werden. Irgendjemand habe ein Interesse daran, uns hinters Licht zu führen, und führt im Schatten des gegenwärtigen Ausnahmezustands seine eigene Agenda durch.
Diese psychologisch undifferenzierte Deutung des Geschehens finden wir in den mannigfaltigen kursierenden Verschwörungstheorien. Dahinter steckt stets die einfache, ich nenne sie im Folgenden „kindliche“, Logik, nach der alles, was geschieht, von Menschen verursacht und intendiert wird. Die Logik der Auflösung der Verschwörung folgt diesem Muster: Man muss die vermeintlichen Verursacher, die das Ganze in Gang gesetzt haben, öffentlich bloßstellen. Wir finden dies in den dümmlichsten und wirrsten Versionen bei bereits benanntem Attila Hildmann, aber auch bei Staatenlenkern wir Donald Trump, der selbst nach einem halben Jahr Corona-Missmanagement in den USA China die Schuld zuschieben möchte.
Aber wir überschätzen die Macht und Einflusssphäre einzelner Menschen und Gruppen maßlos und naiv, wenn wir davon ausgehen, das ganze Geschehen wäre ein ausgeklügelter Plan von den Eliten des „tiefen Staates“ oder anderen obskuren Mächten. Selbstverständlich sehen wir, dass in der Weltwirtschaft auch diese Krise dahinführt, dass einige superreiche Unternehmen ihre Monopole ausbauen, dass für manche Pharmafirma das Geschäft des Lebens wartet und dass politische Vertreter eines absoluten Gesundheitsdiktats ihre Positionen ausbauen können. Nichtdestrotz ist es unwahrscheinlich, davon auszugehen, dass sich die Redakteure von FAZ, Süddeutscher Zeitung, dem Spiegel, der Zeit und den öffentlich-rechtlichen Medien getroffen und geschworen haben, nur eine ganz bestimmte Deutung des Corona-Geschehens zu kommunizieren, bestimmte Forscher zu protegieren und andere systematisch auszugrenzen. Nein, wahrscheinlich ist etwas wesentlich Einfacheres: Es ist einfach aus sich heraus so geschehen. Niemand hat einen Plan gemacht. Die Dinge haben ihren Lauf genommen und nun stehen wir, wo wir sind.
Die Spaltung der Wirklichkeit
Statt der Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen gelingt mittlerweile kein Gespräch mehr mit Freunden, Familienangehörigen oder Kollegen, sollten die Meinungen zur Corona-Gefahr und -Politik auseinandergehen. Das öffentliche Nachbeten des Grundsatzes, man muss sich an die Wissenschaft halten, ist längst einer tiefen ideologischen Spaltung gewichen. Wissenschaftliche Beiträge, die nicht dem gängigen Meinungskorridor entsprechen, werden ignoriert, oder noch besser, wie von youtube im Frühjahr, gelöscht, wenn ein Beitrag nicht den Leitlinien der WHO entspricht. Hierzu ein Zitat von Susan Wojcicki, CEO von youtube: „Alles was gegen die Empfehlungen der WHO verstößt, würde einem Verstoß gegen unsere Richtlinien entsprechen. Daher ist das Entfernen ein weiterer wichtiger Teil unserer Richtlinien“ (zitiert nach Reiss, Bhakti (2020): Corona-Fehlalarm (…), S. 201.). Und hierbei geht es nicht nur um Donald Trumps Vorschläge, doch einfach Desinfektionsmittel oral zu konsumieren, sondern um Positionen von Wissenschaftlern und Fachärzten, die ihr gesamtes professionelles Leben der Behandlung und Erforschung von Infektionskrankheiten gewidmet haben.
Gewissenhafter Maskenträger oder Coronaleugner – dazwischen scheint im August 2020 in Deutschland keinerlei Platz zu sein. Teilweise ungläubig haben wir in den letzten Jahren auf die Teilung der öffentlichen Meinung in zwei Wirklichkeiten in den Vereinigten Staaten geschaut. Heute stehen wir selber kurz vor der Herrschaft von „alternative facts“ und der ausschließlichen Information vieler Bürger über neue Medienkanäle, die eine ganze andere Sicht auf die Dinge vermitteln als die mittlerweile häufig so genannte „Mainstream“-Berichterstattung. So lächerlich uns die amerikanische Auseinandersetzung bei der Zählung der Besucher bei Trumps Amtsinauguration vorkam, so diskutieren wir nun bei uns in sozialen Netzwerken, ob an der aufgelösten Berliner Demonstration am 1. August 17.000 oder 1.300.000 Menschen teilgenommen haben. 1.283.000 – so viel liegt anscheinend zwischen den Wirklichkeiten, in denen die Menschen in Deutschland mittlerweile leben.
Wie lässt sich dieses Spaltungsgeschehen verstehen, wenn wir uns nicht von der kindlich-naiven Erklärung verführen lassen, dass dies alles von einzelnen Menschen und dunklen Mächten so gewollt sei? Welcher geistig klare Beobachter des politischen Geschehens mag z.B. ernsthaft davon ausgehen, dass eine machtbewusste, aber uneitle Person wie Angela Merkel nach 15 Jahren Kanzlerschaft die letzte sich bietende Chance ergreifen möchte, als die Kanzlerin in die Geschichte einzugehen, die die Grundrechte dauerhaft außer Kraft gesetzt hat, um sich darüber diktatorische Machtbefugnisse zu sichern?
Psychologie als Lehre der Selbstbewegung des Geistes
Wenn sich nicht Personen wie Bill Gates, Xi Jinping, Donald Trump, Angela Merkel oder Christian Drosten die totale Polarisierung erdacht haben, in der wir gelandet sind, was ist dann geschehen? Ich möchte hier den Versuch einer psychologischen Erklärung machen. Psychologie allerdings nicht – wie man üblicherweise annimmt – als etwas verstanden, was im Inneren von Individuen vor sich geht (Gefühle, Gedanken, Motivationen, Triebe etc.), sondern als Lehre der Selbstbewegung des Geistes bzw. der Seele oder des Bewusstseins. Ich spreche im Folgenden von Geist, Seele und Bewusstsein oft synonym, auch wenn die drei Begriffe Unterschiede und vollkommen unterschiedliche Herkunft aufweisen. Wesentlich sind mir dabei zwei Kennzeichen des Verständnisses von Psychologie, das wir an unserem Institut verfolgen und weiterentwickeln, die für die folgenden Gedanken ausreichen müssen:
- Wenn die Rede von der Seele oder vom Geist ist, meine ich hiermit etwas anderes als den psychischen Apparat, der Wahrnehmung, Fühlen, Denken und weitere psychische Funktionen steuert. In der abendländischen Tradition war die Seele das, was vom Menschen blieb, wenn der physische Leib und das Ich, in dem diese psychischen Funktionen zusammenfielen, starben. Der Bereich des Seelischen ist damit jener Bereich des Menschen, der jenseits der Einflusssphäre des bewussten Ichs liegt. Seele bezeichnet jenen Aspekt des menschlichen Lebens, der über das biologische, bloße Leben hinausweist. Auf das Individuum gewendet: Sie ist das Andere in ihm selbst, das Unergründliche, unter dessen Einfluss ich und mein Leben stehen, ohne dass ich mich hierfür entschieden hätte. Ergreift mich etwa die seelische Kraft der Liebe, geschieht dies nicht, weil „Ich“ mich hierfür entschieden habe, sondern es geschieht mit mir. „Ich“ komme erst ins Spiel im Umgang mit diesem Gefühl und der Frage, was ich hieraus mache. Das große Andere im menschlichen Leben, das in anderen Zeiten auch den Namen „Gott“ trug (hierzu schreibe ich gerade ein Buch mit dem Arbeitstitel „Gott lebt“, das 2021 erscheinen soll), war vor den Wünschen meines „Ich“ da. Ich stehe nun davor. Therapie in der tiefenpsychologischen Tradition beginnt mit dem Kennenlernen dieses Anderen in mir und seiner Integration in das, als was ich „mich selbst“ erfahre.
- Wir haben im Westen die für manche Betrachtungen unvorteilhafte Tradition, die Seele als etwas zum Individuum Gehörendes zu sehen. Ein anderer Begriff unserer Tradition, der uns helfen kann, sich von dieser individualistischen Perspektive zu emanzipieren, ist der des Geistes. Ein Geist ist etwas, was eigentlich nicht existiert, aber trotzdem durch seinen Spuk Wirkung entfaltet. Im Deutschen haben wir auf das Kollektive unserer Kultur gewendet hierfür den wundervollen Begriff des Zeitgeistes. Kein Mensch und keine Institution haben ihn entworfen, sondern er ist die Summe unseres Meinens, Denkens und aufgehobenen Fühlens und regiert vollkommen über unsere Köpfe und unser persönliches Wollen und Planen hinweg.
Zur Wirkung des Zeitgeistes einige Beispiele aus der jüngeren politischen Geschichte der Bundesrepublik: Die SPD hat im Jahr 2000 entgegen dem, was viele als ihre vermeintliche politische DNA angesehen haben, die Hartz-Gesetze eingeführt. Die CDU hat in den folgenden zwei Jahrzehnten den Atomausstieg, die Abschaffung der Wehrpflicht, die Ehe für homosexuelle Paare, die Öffnung der deutschen Grenzen in der Flüchtlingskrise etc. umgesetzt. Die einfache, kindliche Erklärung der jeweiligen Kritiker hierzu: Schröder und Merkel haben die Werte ihrer Partei und dazu die gute alte Bundesrepublik verkauft. Eine etwas differenziertere Variante: Sie konnten aufgrund der politischen Realitäten (Massenarbeitslosigkeit, Fukushima, gesellschaftlicher Wertewandel, Flüchtlingskrise etc.) nicht anders handeln.
Dies verkennt, dass Reaktionen auf ein politisches Geschehen nicht einfach einem natürlichen Automatismus folgen. Alles, was geschieht, wird interpretiert und ist mit Ideen verbunden. Der Mittler der Ideen zwischen dem Geschehenden und dem, wie auf diese reagiert wird, ist der Geist der jeweiligen Zeit. Mit der Seele des Individuums hat er gemein, dass in ihm jene Wahrheiten liegen, die die Betreffenden nicht erdacht oder intendiert haben. Die Psychologie des Individuums, das Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln des Einzelnen wird erst durch den Logos des Geistes bestimmt, durch dessen Rahmen der Einsatz dieser Funktionen abgesteckt wird.
Psychologie ist in diesem Verständnis, das auf den jungianischen Psychoanalytiker und Philosophen Wolfgang Giegerich zurückgeht, die Auseinandersetzung mit der Selbstbewegung des Geistes, in dem wir leben. Die psychologische Analyse interessiert sich dabei vornehmlich für den Wandel und die Brüche des Bewusstseins, also die Evolution der Wahrheit und inneren Logik einer Zeitepoche. Der Zeitgeist ist der Dirigent, der führt, den es aber – als tatsächliche Person oder Institution – nicht gibt. Es ist ein buchstäbliches Nichts, das den Ton angibt. All die Menschen im Orchester: Frau Merkel, die Herren Spahn, Söder, Laschet, Drosten und Wieler, haben ihre Positionen, aber jeder Handelnde ist nur so machtvoll, wie der herrschende Zeitgeist dies zulässt. Der Geist ist kein Subjekt, kein hinter dem Geschehen die Strippen ziehendes Agens, sondern lebt und wirkt nur im und durch das Geschehen an sich.
Um das Handeln der Menschen in einer bestimmten Zeit zu verstehen, müssen wir schauen, welche geistigen Logiken das Fühlen, Denken, Sprechen und Handeln von Individuen in dieser Zeit überhaupt erst ermöglichen. Uns interessiert die Psychologie (übersetzt: der Logos des Geistes) einer bestimmten Zeit. Bezogen auf Corona: Welcher Geist leitet die Politik, Medien und Menschen und bestimmt damit den Umgang mit diesem Phänomen?
Obwohl von einem vollkommen anderen Hintergrund kommend, finden wir einen ähnlichen Zugang im Denken des postmodernen Philosophen Michel Foucault. Foucault interessierte sich für die Produktion des Wissens in unserer Gesellschaft mit dem politischen Hintergrundgedanken „Wissen ist Macht“. Das, was die Wahrheit sei, – in unseren Worten: die Wahrheit des Zeitgeistes – erschließt sich über die Diskurse, innerhalb derer das Wissen, das für uns gilt, geschaffen wird. Personen sind hierbei wichtig, indem sie bestimmte Rollen im Diskurs einnehmen, aber entscheidend für das Endergebnis sind nicht einzelne Menschen, sondern der Prozess der Wissensgenerierung selbst. Ihm müssen wir, so Foucault, mittels der Diskursanalyse nachgehen, wenn wir verstehen möchten, wie sich Wahrheit und Wissen erschaffen.
Die absolute Alternativlosigkeit
Der politische Diskurs zur Corona-Epidemie ist, wie andere politische Diskurse der letzten Jahre, durch ein Charakteristikum geprägt: Die jeweilige Richtung der Politik wird als absolut gesetzt. Dies wurde erstmals ganz deutlich in Angela Merkels bekannten Diktum der „Alternativlosigkeit“, die in einem anderen Kontext, der Eurorettung, den Einzug in den politischen Diskurs fand.
Gab es damals durchaus noch eine politische Debatte darüber, ob es denn tatsächlich keine anderen gangbaren Wege gäbe, ist dies im Umgang mit Corona in der deutschen Öffentlichkeit und Politik nicht mehr der Fall. Der eine Weg ist alternativlos. Wer über für und wider, richtig und falsch diskutiert, missachtet die Opfer in Norditalien, Spanien, Großbritannien und New York und den befürchteten Exitus der afrikanischen Gesellschaften, den so viele prognostiziert haben, der bis jetzt aber ausgeblieben ist. Der Blick nach Norden zu den dickköpfigen Schweden ruft in der politisch-medialen Klasse entweder kognitive Dissonanz oder schlichtes Kopfschütteln über die unverschämte Chuzpe dieses kleinen Landes hervor, eine eigene Antwort auf das Geschehen geben zu wollen.
Was ist in der kollektiven Seele geschehen, dass wir uns diese Lage manövrieren konnten, die unseren Werten völlig widerspricht? Wissenschaftliche Vielfalt, Meinungsverschiedenheit, ein Diskurs, in dem die wichtigsten Punkte von und mit anerkannten Fachleuten vernünftig und transparent debattiert würden – dies müsste doch eigentlich dem Geist unserer Zeit gerecht werden, der in so vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen auf Transparenz, Gleichwertigkeit, Pluralismus und wissenschaftliche Evidenz drängt. Wie können wir bei der vorerst größten gesellschaftlichen Herausforderung, die die 2020er Jahre für uns bereit halten, auf einen Schlag in die Position kommen, unliebsame Positionen einfach aus dem Diskurs auszuschließen? Was ist geschehen?
Ende März diesen Jahres ist ein Wunder geschehen. Die Staatschefs der Welt fuhren die größten Teile unserer Volkswirtschaften für eine rekordverdächtige Zeit runter. Ich spreche von einem Wunder, da in unserer angeblich säkularen Zeit in der Logik unserer Wünsche, Ängste und Selbstverständlichkeiten ein Gott regiert, dem wir alle unsere Lebenszeit und noch so vieles mehr opfern: Ja, ich spreche vom Geld. In Nicht-Corona-Zeiten debattieren wir über Jahrzehnte, wie wir ein paar Prozentpunkte CO2-Ausstoß-Verringerung hinbekommen, ohne dass sich dies auch nur in der zweiten Nachkommastelle in der Konjunktur niederschlagen sollte. Im Privaten wie in der Sphäre der Wirtschaft oder Politik gibt es kaum jemand unverhohlen zu: Das liebe Geld kommt bei uns an erster Stelle. Die freundliche, politisch korrekte Sprachregelung hierfür: Wir müssen für Wachstum sorgen bzw. dürfen das Wachstum nicht abwürgen.
Welch tiefer Einschlag hat die kollektive Weltseele erschüttert, wenn diese für den modernen Menschen Quasinaturgesetzlichkeit auf einen Schlag außer Kraft gesetzt wird? Keiner hatte so wirklich mit dem Meteoriteneinschlag mit dem Namen Covid-19 gerechnet. Noch im Januar und Februar wägte man sich im Westen im Bewusstsein, dass dies ein Problem sei, was vielleicht typisch für China wäre, mit seinem Nebeneinander von Wet markets mit lebenden Tieren und seinen vollkommen überfüllten Städten. Als klar war, dass das Virus zu uns gekommen ist, regierte die nackte Angst.
Was braucht der moderne Mensch in Zeiten von Angst und Schrecken? In Deutschland vor allem anderen Klopapier für den Körper und Zahlen für den Geist. Im Bundesinnenministerium wurden im März (auf Basis sehr pessimistischer Annahmen) rasch intern die ersten Hochrechnungen angestellt. Eine erste Prognose für den schlimmsten aller Fälle rechnete mit etwa einer Million Opfern in Deutschland bis zum Sommer. Die Bilder aus Norditalien ließen darauf schließen, dass es tatsächlich in eine solche Richtung gehen könne. Es war die nackte Angst vor dem eigenen Tod, dem der eigenen Liebsten und Nächsten und vor dem potentiellen Chaos, in dem Deutschland versinken könnte, wenn wir nicht mit dem stärksten aller verfügbaren Mittel, dem gesellschaftlichen Lockdown, reagieren. Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit stach das Streben nach Kapitalmehrung als wesentlichstes menschliches Grundbedürfnis in der spätmodernen Wohlstandsgesellschaft des Westens binnen Tagen aus. Dies ist eine tektonische Verschiebung im kulturellen Unbewussten unserer Gemeinschaft, dessen Folgen uns erst langsam gewahr werden.
Der Ruf nach dem starken Vater
In Krisen, in denen Ängste das Bewusstsein bestimmen, kommt es bei vielen Menschen zu einem Phänomen, das wir in unserer therapeutischen Arbeit als Rückfall in ein kindliches Bewusstsein beschreiben. Die seelische Bewegung der Regression ist eine der ältesten Denkweisen zu psychologischen Pathologien, beobachtete schon Sigmund Freud viele Symptome seiner Patienten durch diese Brille. Was geschieht mit einem Kind in Angst? Es gibt all seine Bestrebungen nach Autonomie auf und sucht nach einer starken Bezugsperson, die es vor den Gefahren beschützt.
Es ist ein bezeichnendes Phänomen, dass sich die Mehrheit in Deutschland seit dem Corona-Ausbruch eher einen Bundeskanzler Markus Söder als einen Armin Laschet wünscht (an die einst chancenreichen Kandidaten Robert Habeck, Annalena Baerbock oder Friedrich Merz hat man bereits lange nicht mehr gedacht). An den reinen Fakten kann es kaum liegen, denn was die Infektionszahlen und Todesraten angeht, steht Nordrhein-Westfalen besser da als Bayern. Nein, worin sich Laschet und Söder unterschieden haben, war v.a. die Rhetorik und die unterschiedliche Abwägung zentraler menschlicher Güter. Während der erste seine Bedenken zum Herunterfahren unserer Wirtschaft und des Bildungssystems und der Isolierung der Alten äußerte, hatte der zweite den richtigen politischen Riecher und inszenierte sich mit dem bereits traditionsreichen bayerischen Sonderweg als Beschützer des Volkes, als Vaterfigur, die die Dinge mit Klarheit und Konsequenz regelt und die Kinder, das Volk, ohne Kompromisse schützt.
Wichtig dabei: Das ist nicht Markus Söders Werk. Sich politisch erfolgreich auf diese Weise profilieren konnte er nur, weil er damit das Schutzbedürfnis des größten Teils der Menschen traf. Das Bedürfnis nach dem starken Vater lag ganz einfach in der Luft. Das kollektive, in Angst versetze Bewusstsein hatte in der Summe aller Einzelseelen bereits entschieden.
Aus Laschets Erfahrung dürften alle Politiker ihre Schlussfolgerungen gezogen haben: Wer Corona relativiert oder es auch nur abwägt gegen andere gesellschaftliche Güter, verliert beim Wahlvolk – und welcher Politiker will dies schon. Die Richtung und Eigendynamik des politischen Diskurses sind nun bestimmt. Als in Nordrhein-Westfalen nach den Sommerferien die Schule wieder losging, mussten zunächst 2,5 Millionen Schüler zwischen Ostwestfalen und Eifel den gesamten Schultag Maske tragen – entgegen der Empfehlung des Marburger Bundes, dem Berufsverband der Ärzte in Deutschland. Auch Armin Laschet hat vom neuen Geist gelernt, der die deutsche Seele bewegt.
Einzig Wolfgang Schäuble wagte es zu sagen, dass das Leben des Menschen kein absoluter Wert an sich sei. Als Risikopatient aufgrund seines Alters und seiner Behinderung und der schlichten Situation, dass er keine Wahlen mehr gewinnen muss, konnte er sich die Freiheit nehmen, einen der ganz wenigen dissonanten Töne im Umgang mit dem Corona-Virus zu setzen. Alle anderen Beteiligten, die vielleicht Zweifel oder andere Meinungen haben, wurden ausgegrenzt oder haben sich ganz einfach dem Meinungskorridor des Zeitgeistes unterworfen.
Die Verabsolutierung des Diskurses am Beispiel der Maske
In der Öffentlichkeit finden die Corona-Maßnahmen seitdem die logische Figur einer zunehmenden Verabsolutierung. Nachzeichnen lässt sich diese Entwicklung an dem öffentlichen Wahrzeichen der Corona-Zeit schlechthin: der Maske. Noch im April wurde von offizieller Seite, d.h. primär von der WHO vertreten, dass es keine wissenschaftliche Evidenz dafür gäbe, dass das Tragen von Atemschutzmasken vor einer Infektion mit Viren schützen würde bzw. für den Schutz von anderen angeraten sei. Im Gegenteil wurden Masken sogar abgelehnt, da sie den Träger in der falschen Illusion wiegen könnten, dass er vor einer Infektion geschützt sei. Und fünf Monate später?
Meine Frau hat mir vor kurzem von einer schwangeren Freundin berichtet, die in der Klinik, in der sie entbinden möchte, dazu angehalten wird, bei der Geburt ihres Kindes eine Maske tragen. Ich habe diesen für mich zunächst unglaublichen Bericht dann recherchiert und es scheint in der Tat so, dass dies in vielen gynäkologischen Stationen der neue Modus Vivendi ist, auch wenn es hierzu (noch) keine Empfehlung seitens der WHO gibt. Eine solche Praxis bedeutet, dass eine wissenschaftlich nicht hinreichend belegte Maßnahme (Atemmasken sind durchlässig und bieten keinen 100prozentigen Schutz vor Infektionen) zum Schutz vor dem Virus Vorrang hat vor dem, was im Sinne einer gesunden und erfolgreichen Geburt für Mutter und Kind angemessen ist.
Die Maske gehört zu dem wenigen, was Menschen neben Händewaschen und Abstand halten tun können, um sich vor einer Infektion mit Covid-19 zu schützen. Dass alle drei Maßnahmen der „AHA-Regeln“ (Abstand, Handhygiene, Alltagsmaske) am Ende nur einen relativen Schutz vor dem Virus bieten, darf nicht erwähnt werden. Hauptsache, der Mensch tut, was er tun kann.
Ich möchte hier nicht gegen die Nutzung von Atemschutzmasken argumentieren. Mich beeindruckt die ostasiatische Praxis, wo man sich bei einer Erkältung in der Öffentlichkeit mit Maske bewegt – nicht, um sich selbst, sondern um die Allgemeinheit zu schützen. Ich erinnere mich an die Arroganz, mit der man das hierzulande noch im März belächelt hat. Ich kann auch nichts mit der Hysterie anfangen, wenn Menschen es für unmöglich halten, das Ding bei einem Supermarkteinkauf eine halbe Stunde zu tragen. Es stimmt aber mehr als nachdenklich, wenn die Maske zum Fetisch unserer Zeit wird und kein Lebensbereich mehr vor ihr verschont bleiben soll. Im Fall der werdenden Mutter kann man sich z.B. auch die pragmatische Regelung eines Schnelltests vorstellen. Wenn dies für Urlaubsrückkehrer aus Mallorca am Flughafen möglich ist, mit welchem Recht enthält man es einer Gebärenden vor und nötigt sie zu dieser Maßnahme, die gegen alles spricht, was beim Geburtsprozess wichtig ist?
Die einzige Erklärung hierzu lautet, dass die Logik der Maske sich verselbstständigt hat. Ihre Sinnhaftigkeit und die Abwägung ihres Einsatzes scheint uns innerhalb kürzester Zeit abhanden gekommen zu sein. Es geht nun ums Prinzip! Sie ist ein Fetisch geworden. Beim Profi-Fußball setzen sich die ausgewechselten Spieler zu ihren Kollegen auf der Bank und ziehen als erstes die Maske an. Diese Männer werden dauernd getestet, verbringen ihre gesamte Zeit miteinander, tauschen täglich im Training und Spiel Speichel, Schweiß und manchmal Blut miteinander aus, aber wenn man nebeneinandersitzt, ist die Vorbildfunktion entscheidend – und ein guter Mensch ist man z.Z. öffentlich scheinbar nur, wenn man die Maske trägt.
Ein weiteres Beispiel aus dem Sport: Der Basketballnationalspieler Joshiko Saibou wurde von seinem Arbeitgeber, den Telekom Baskets Bonn, fristlos entlassen, weil er an der Berliner Demonstration gegen die deutsche Corona-Politik teilgenommen hat und dabei keine Maske trug. Da auch für Sportler der Grundsatz der freien Meinungsäußerung gilt, konnte die Kündigung nur damit begründet werden, dass er gegen die Hygieneschutzmaßnahmen des Vereins verstoßen hätte. Hierzu wiederum die pragmatische Frage: Wie wäre es mit einem Test gewesen statt des Rauswurfs? Wie hätte der Verein wohl darauf reagiert, wenn Saibou, ein deutscher farbiger Mann, nicht bei der Corona-Demo, sondern einer Black Life Matters-Kundgebung ohne Maske erwischt worden wäre? Meine Vermutung: Man hätte ihm aufgrund des zu erwartenden medialen Aufschreis nie und nimmer gekündigt. Die Vielfalt unserer Meinungen scheint genauso lange erwünscht zu sein, wie sie der Gesinnung des Zeitgeistes entspricht.
Es scheint, als habe sich in der Corona-Debatte eine unserer ältesten und einfachsten Logiken wieder einmal Geltung verschafft: Die Spaltung der Wirklichkeit in das vermeintlich Gute und Böse. Wenn es eng wird, scheint dieser urchristliche Klassiker – selbstverständlich gänzlich unbewusst – plötzlich wieder das Mittel der Wahl zu sein, um die Phänomene unserer komplexen Wirklichkeit zu ordnen. Böse, das ist der Corona-Leugner Saibou, der für seine Sünde gefeuert wird. Auf der anderen Seite rotten sich alle Gegner der Corona-Politik zusammen und suchen den Bösen bei den „Herrschenden“ (Drosten, WHO, RKI, Bundesregierung, Bill Gates usw.). Was bleibt auf der Strecke? Jede Möglichkeit des rechten Maßes und die praktische Vernunft. Hierzu nun im zweiten Teil dieses Aufsatzes einige Gedanken oder ganz einfach: meine Meinung zum Geschehen.
2. Plädoyer für einen erwachsenen Umgang mit Corona
Es gibt keine Sicherheit
Einer der wichtigsten seelischen Antriebe des modernen Menschen ist die Kontrolle über die Natur. Angefangen mit der Entwicklung von Viehzucht und Ackerbau sind wir mittlerweile bei der Möglichkeit, unser Erbgut strategisch verändern zu können. Das Corona-Virus, bei dem wir noch nicht verstehen, warum es manche sterben lässt und sehr vielen anderen noch nicht einmal Symptome bereitet, ist eine Unverschämtheit für das Kontrollbewusstsein des modernen Menschen. Ein kleines Fitzelchen Natur lässt die ganze Welt stillstehen, die wir gebaut haben. Dabei erinnert es uns an etwas, das uns in unseren unbewussten gottmenschlichen Allmachtphantasien zeitweilig verloren geht: So viel wir auch tun werden, das Leben bleibt, hier zitiere ich meinen Vater aus einem älteren Beitrag, „lebensgefährlich“. Die Verdrängung dieses einfachen Umstandes ist neurotisch.
Dies bedeutet nicht, dass man keine sinnvollen Maßnahmen im Umgang mit dem Virus ergreifen sollte. Aber absolute Sicherheit ist eine Fata Morgana. In Norditalien sind Pfleger und Ärzte trotz FFP3-Masken im März an Corona erkrankt und teilweise daran gestorben. Wer sich nicht wie ein Eremit aus einem halbwegs normalen Lebensvollzug heraushalten möchte oder eine totale Verregelung aller sozialen Lebensprozesse möchte, kommt nicht um die Einsicht herum, dass die reale Gefahr besteht, dass wir uns mit dem Corona-Virus infizieren können.
Der Standford-Epidemiologe John Ioannides hat für die Wahrscheinlichkeit eines unter 65jährigen gesunden Menschen, an den Folgen des Virus zu sterben, errechnet, dass die Gefahr in Deutschland etwa so hoch liegt wie bei einer täglichen Autofahrt von 32 Kilometern (zitiert nach Bhakdi, Reiss: a.a.O., S. 29). Wer verzichtet bei diesem Risiko auf den Wagen? (Ich vermute, dass Radfahren nicht weniger gefährlich ist.) Den weltweit bis dato 940.000 Corona-Toten (Stand 17.9.2020) stehen weltweit jedes Jahr 1.500.000 Kinder gegenüber, die an einfach vermeidbaren Durchfallerkrankungen sterben. Wo ist hier der Aufschrei?
Um Zahlen richtig lesen, verstehen und einordnen zu können, bräuchte es zunächst einmal Statistikkurse für die gesamte Bevölkerung. So wie sie im letzten halben Jahr eingesetzt wurden, haben sie statt Aufklärung vor allem Angst verursacht und somit ein Klima geschaffen, das nach immer stärkeren Maßnahmen ruft, um die kindliche Illusion von Sicherheit zu erzeugen.
Schluss mit idiotischen Maßnahmen
Der Wunsch, jeden Lebensbereich mit den neuen Corona-Bestimmungen zu regeln, führt neben sinnvollen Maßnahmen wie dem Verbot von Großveranstaltungen zu mannigfaltigen Idiotien. Hierzu einige Beispiele aus meiner eigenen Lebenspraxis und der aktuellen Politik.
Die Kita meiner Tochter verfügt über eine Wasserpumpe, die die Kinder im Sommer nutzen können, um sich am kühlen Nass und dem Spielen im Matsch zu erfreuen. Die Nutzung dieser Pumpe wurde von behördlicher Seite untersagt, da sich bei deren Gebrauch zu viele Kinder an einer Stelle sammeln könnten und so das Virus übertragen werden könnte. Wie sehr sich Kleinkinder den Regeln des Social Distancing unterwerfen können, kann man sich vorstellen, wenn man erfolglos versucht, ihnen beizubringen, beim Frühstück ihren Saft nicht übers Butterbrot zu gießen.
Kein Kleinkind versteht diese Regeln. Würden sie tatsächlich längerfristig angewendet und die Kinder müssten auf jeden Körperkontakt verzichten, hätte dies für ihr natürliches Bindungsverhalten und ihre seelische Entwicklung vielfältige negative Konsequenzen. Ich schulde dem pragmatischen Erzieher meinen Dank, der die Enttäuschung der Kinder über die geschlossene Pumpe auflöste, indem er sie bei Außentemperaturen von über 30 Grad einfach mit dem Schlauch nassgespritzt hat.
Eine weitere Praxis, die mir ein Freund aus Bayern mitgeteilt hat: Sein Sohn geht dort ins erste Schuljahr. Seine Klasse wurde in zwei Gruppen aufgeteilt, so dass es nur wöchentlich alternierend Präsenzunterricht gibt. Die Kinder begegnen sich morgens mit dem gebotenen Abstand alle zwei Wochen, treffen sich jedoch alle miteinander jeden Nachmittag zusammen im Hort, wo sie fröhlich spielen und Bakterien und Viren austauschen.
Auf dem Platz dürfen wir im Restaurant und Kino „oben ohne“ sitzen, sobald wir aufstehen, brauchen wir die Maske. Sorgen wir für damit tatsächlich für Sicherheit oder beruhigen wir ganz einfach unsere Ängste mit halbmagischen Ritualen? Sind solche Maßnahmen tatsächlich evident, wie man im Medizinerduktus sagen würde, oder sind sie nicht vielmehr Ausdruck einer staatlich verordneten Pädagogik, die das Verhalten in jedem Lebensbereich durchregeln möchte? Wie wäre es statt dem Zirkus mit Maske an und aus im Restaurant mit der folgenden ganz einfachen Maßnahme: Wer sich nicht anstecken möchte oder seinen persönlichen Beitrag zur Nichtverbreitung des Virus bringen möchte, sollte einfach kein Restaurant aufsuchen. Im Umkehrschluss: Wer eines aufsucht, kann sich dort im schlechtesten Fall anstecken. In meinem Bekanntenkreis waren Menschen, die während der gesamten Lockdownphase mit äußerster Disziplin Masken getragen und Social Distancing betrieben haben und sich dennoch mit Covid-19 infiziert haben.
Sobald die Infektionszahlen nach oben gehen, sind dem Regelungsaktionismus kaum mehr Grenzen gesetzt. In Spanien wurde gerade im August Rauchen im Freien bis auf wenige Ausnahmen verboten, u.a. mit der Begründung, dass man beim Rauchen „keine Maske tragen würde“ (hier im Spiegel). Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach fordert „in einer Zeit, in der Übergewicht als dominierender Risikofaktor für schweren Verlauf einer Covid-19 Erkrankung gesichert ist, darf nicht für Junk Food geworben werden“ (hier bei Twitter). Übergewichtige Menschen nehmen also ab, wenn sie weniger McDonalds-Werbung sehen und sterben dann nicht mehr an Corona? Das ist nicht nur wissenschaftlicher Unsinn, sondern hier wird, wie bei anderen Themen auch, versucht, ein politisches Ziel (das Verbot von Fastfood-Werbung) paternalistisch mit den Ängsten der Bevölkerung durchzusetzen. Dies nennt man, wenn es aus anderen politischen Lagern kommt, Populismus.
Es scheint, als gäbe es kaum eine gesundheitspolitische Verbotsmaßnahme, die sich nicht mit Corona begründen ließe. Wenn es um den Schutz vor dem Virus geht, ist nichts mehr heilig. Das eigentliche Problem dieser Maßnahmen liegt darin, dass sie bei immer mehr Menschen enorme Wut darüber entfachen, dass sie wie Kinder behandelt werden. Wenn in Öffentlichkeit und Politik darum gebeten wird, dass man sich an die Regeln halte, müssen diese Regeln sinnvoll, evident und absolut notwendig sein. Und auch hier muss der liberale Grundsatz gelten: Keine Regel ist besser als eine überflüssige Regel.
Das politische Gemeinwesen der Bundesrepublik lebt von einem möglichst breiten Konsens großer Bevölkerungsschichten. Wenn die Dinge weiter ihren Lauf nehmen, sind wir dabei, unsere politische Kultur in eine verängstigte Mehrheit und eine wütende Minderheit zu spalten. Und hierbei geht es nicht um das manchmal geforderte „Zuhören“ der „Wutbürger“. Es geht darum, dass andersartige Meinungen und politische Gesinnungen, mögen sie einem gefallen oder nicht, in den selbsternannten „Qualitätsmedien“ und der demokratischen Parteienlandschaft repräsentiert werden. Diese Meinungen gibt es, aber es traut sich keiner aus der Deckung, weil die Furcht vor der Ächtung in diesen Kreisen größer ist als die Furcht vor dem Virus. Nicht das Virus, die Angst frisst uns und die Weise, wie wir leben.
Die Spaltung der Generationen
Die Spaltungsbewegungen vollziehen sich gesellschaftlich nicht nur zwischen Gesundheitsabsolutisten und Corona-Leugnern, sondern zunehmend auch zwischen Generationen. Hier ist vor allem der Umgang der mittleren Jahrgänge mit den „Jungen“ und den „Alten“ interessant. Beide Gruppen haben im öffentlichen Diskurs keine eigene Stimme, aber meine Generation (ich bin 38) und die Mittelalten, die die wichtigen gesellschaftlichen Posten besetzen, sprechen gerne ausgiebig über beide. Dabei kommt den Alten die Rolle der Gefährdeten zu, die es zu schützen gilt, und die Jungen werden bereits vielerorts als Verursacher der zweiten Welle an den Pranger gestellt.
Mein erster Blick gilt den alten Menschen. Abgesehen von Ausnahmen schwerer Krankheitsverläufe mit bleibenden Gesundheitsschäden bei jüngeren Menschen (die es im übrigen bei vielen Infektionskrankheiten geben kann – ich selber bin von einem sehr unglücklichen Verlauf nach einer Staphylokokkeninfektion seit 20 Jahren hiervon betroffen) sind vor allem ältere Menschen mit schweren Vorerkrankungen mit dem Leben gefährdet. Im öffentlichen Diskurs herrscht daher die Argumentationslinie, dass man die Alten schützen müsse. Auch hierzu zwei persönliche Erfahrungen.
Vor kurzem habe ich mit meiner Tochter meine Großmutter im Altersheim besucht. Sie ist 95. Ihre Urenkeltochter, die das einzige ist, wofür sie sich noch begeistern kann, hatte sie seit Ende 2019 nicht mehr gesehen, da wir sie seit dem Corona-Ausbruch nicht mehr besuchen durften. Als wir vor einigen Wochen zusammen bei ihr waren, fragte sie mich, ob ich denn Vater sei und lernte ihre Urenkelin quasi neu kennen. Eine andere ältere Dame, die uns sah, sagte, dass sie hoffe, dass meine Oma ihre Urenkelin auch „ordentlich geknuddelt“ habe. Sie würde sich dies nicht verbieten lassen. Dies hatte meine Großmutter nicht und die Gefahr bestand glücklicherweise auch nicht, da die Kleine ihre Urgroßmutter nicht mehr kannte und jegliche Kuschelversuche sicherlich abgewehrt hätte, so dass ich nicht intervenieren musste. Welcher „Beschützer“ fragt unsere „Alten“: Wollen sie so alt wie irgendwie möglich werden oder möchten sie die wenige Zeit, die ihnen noch bleibt, mit dem füllen, was ihnen noch ein wenig Lebensfreude bringt?
Worum geht es wirklich in den Altenheimen? Es ist notwendig, die Einrichtungen zu schützen, in denen alte Menschen leben, und die sie pflegenden Menschen. Weder notwendig noch moralisch legitim ist es allerdings, die Alten zu bevormunden und für sie zu entscheiden, was für sie richtig sei. Die meisten alten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sehnen sich nicht nach einem möglichst langen Leben, sondern einem, dass bis zu seinem Ende lebendige Momente bereithält. Und lebendige Momente sind in den allermeisten Fällen soziale Momente. Was maßen wir uns an, für diese Menschen zu sprechen, die ganz andere Dinge erlebt haben als wir Mittelalten?
Mit unserer Politik schützen wir nicht die Alten, sondern die Institutionen, die es uns ermöglichen, dass unsere Alten nicht mehr in unserem Haushalt leben wie in früheren Zeiten. Das ist notwendig, aber es kommt ohne das falsche heroische Pathos der Nächstenliebe gegenüber den Alten aus, die die Gesundheitspolitiker nun auf einmal entdecken.
Sieht man von Corona ab, haben alte Menschen nur wenig Lobby in unserer Gemeinschaft. Am Wochenende fragte mich eine ältere Frau auf einem Berliner Flohmarkt, ob sie meine Pfandflasche haben dürfe. Sie war gepflegt und überaus zurückhaltend. Wir kamen ins Gespräch und sie erzählte mir, dass sie 43 Jahre gearbeitet und mit ihrem Mann zusammen 600.- Euro Rente habe. Daher gehe sie nun Flaschen sammeln. Wir barmherzigen Samariter möchten die Alten auf einmal vor Corona schützen, aber politisch hat unser Gemeinwesen es bis jetzt nicht vollbracht, für diese Frau ein würdiges Leben im Alter zu bereiten. Vor dem langsamen Tod der Altersarmut, der die Frau bei 30 Grad auf den Berliner Flohmarkt zum Flaschensammeln schickt, schauen wir gemeinsam weg, wenn man nicht gerade in einer Begegnung landet, wie ich an diesem Sonntag.
Wer soll uns unsere Güte gegenüber den Alten glauben, die wir auf einmal durch die Corona-Gefahr zu entdecken meinen? Geht es tatsächlich um die Alten und Kranken, deren Leben und Nöte uns ansonsten in so vielen Fragen schlichtweg egal sind und die wir gerne in die Alten-, Pflege oder Behindertenheime verfrachten, um von ihren Einschränkungen in unserem Lebensvollzug nicht gestört zu werden? Oder sind auch nicht hier am Ende doch unsere ganz eigenen Ängste wiederum leitend, die wir nun mit der neuentdeckten Barmherzigkeit gegenüber den Alten und Kranken veredeln können?
Waren es zu Beginn der Epidemie die weitreisenden Eliten und die ostasiatisch aussehenden Menschen, die den schwarzen Peter des Virusträgers innehatten, ist dieser Staffelstab im Spätsommer an die Jugend weitergegeben worden, die sich trotz Pandemie heraus nimmt, privat zu feiern. Entgegen vereinzelter Ausnahmen von schweren Verläufen macht der absolute Großteil junger Menschen eine Corona-Infektion mit leichten oder gänzlich ohne Symptome durch. Ein Freund in den 50ern erzählte mir von der Praxis seiner Kinder, die 19 und 24 Jahre alt sind und im Frühjahr gemeinsam ein konsequentes System etablierten, in dem sie jeden Kontakt mit ihren Eltern und der älteren Verwandtschaft vermieden. Er sagte mir, wie beeindruckend er ihre Sorge und Verantwortung empfunden hätte.
Nach dem Lockdown und einem halben Jahr ohne Clubs und echtem Nachtleben bekommen diese jungen Leute nun von der „vernünftigen“ Mehrheit zu hören, dass sie gegen die Regeln verstoßen und die „zweite Welle“ verursachen. Man fragt sich, ob dieser moralische Fingerzeig von Menschen kommt, die nie jung waren oder ganz einfach vergessen haben, was in dieser Lebensphase das Wesentliche war. Seit einem halben Jahr verzichtet ein nicht geringer Teil der Jugend auf das, was Jugend unter anderem ausmacht: Tanz, intensiver und vielfältiger Kontakt, ausgelassenes Feiern, sexuelle Anbahnung.
Meine Generation und die etwas Älteren sind in ihrer privaten Lebensführung darin eingeschränkt, dass Schulen und Kitas geschlossen waren und Kulturinstitutionen es immer noch sind. Dies ist für viele nicht schön, aber sofern die Kindergärten und Schulen wieder geöffnet sind, lässt sich vieles davon verschmerzen. Den Jungen hingegen, deren Leben für einige Jahre ganz dem Feiern und Erleben gehört, geben seit Beginn der Pandemie fast alles auf. Statt einer Würdigung und des Respekts für diese Opfer, bekommen sie zu hören, sie seien egoistische Regelbrecher.
Sehr viele junge Menschen haben im Frühjahr zum Schutz unseres Gesundheitswesens und der gefährdeten älteren Generation enorme Disziplin gezeigt, obwohl den meisten selbst nur eine Erkältung drohte. Die deutschen Krankenhäuser waren zu keinem Zeitpunkt überlastet, ganz im Gegenteil. In manchen Krankenhäusern wurden sogar Ärzte in Kurzarbeit geschickt. Wenn man die Jugend tatsächlich mit im Boot haben möchte, wenn es wieder eng werden sollte, tut man gut daran, sie nicht auch noch moralisch zu verurteilen.
Mit dem Virus leben
Das Virus ist nun da und lässt sich nicht dauerhaft aus der Gesellschaft halten, ohne ein System der Totalüberwachung einzurichten. Wenn es ganz dumm läuft, könnten es gerade die populistisch regierten Länder wie die USA und Brasilien sein, die mit ihrer Mischung aus Ignoranz und Inkompetenz im Umgang mit dem Virus gerade unkontrolliert hohe Infektionszahlen durchmachen, die im kommenden Sommer als erste eine weitgehende Herdenimmunität erreicht haben.
Die Hochrechnungen der Wissenschaftler aus dem Frühjahr hierzu, die von notwendigen Infektionsraten von 70% der Gesamtbevölkerung ausgingen, scheinen falsch zu sein, da Forscher damals in ihren prognostischen Modellrechnungen annahmen, dass Menschen keinerlei Immunität gegen Covid-19 hätten. Mittlerweile weiß man von vielfältigen Kreuzimmunitäten und erfolgreichen Immunreaktionen auf das Virus bei vielen Menschen. Käme es zu einer derartigen Situation, laufen wir ausgerechnet in den Staaten, die das Virus relativ erfolgreich eindämmen konnten, in die Situation, uns möglicherweise über Jahre vor dem Virus einbunkern zu müssen. Was dies für unser Leben, die weitere politische Spaltung in unserem Land, die wirtschaftliche Sicherheit, die Neurotisierung von Kindern und Jugendlichen, die Vereinsamung vieler Menschen und so vieles mehr bedeuten würde, lässt sich ausmalen.
Die aktuelle Strategie ist ein kollektives Verstecken vor dem Virus und von der Hoffnung auf die Entwicklung eines Impfstoffs oder wirksamer Medikamente getragen, als ob diese uns wieder ins gelobte Land führen würden. Ob die Wette aufgeht, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen. Auch ob die Impfung ausreichend effektiv ist und keine gefährlichen Nebenwirkungen hat, ist offen. Der Druck, etwas zu präsentieren, ist so hoch, dass man auch hier wahrscheinlich einige Augen zudrücken wird.
Wer selbst einmal einen Blick in den Forschungsalltag werfen durfte, weiß, wie Studien erstellt werden und wie „ergebnisoffen“ Wissenschaft tatsächlich abläuft. Und auch wenn wir keine generelle Impfplicht bekommen sollten, wird der politische Ruf nach einer verpflichtenden Impfung von Angestellten in Gesundheitsberufen, Kindern in Schulen und Kindergärten und weiteren Berufsgruppen mit Sicherheit kommen. Noch vor der Corona-Epidemie trat am 1. März dieses Jahres das Masernschutzgesetz in Kraft, nach dem Kinder ohne Impfnachweis nicht mehr in Schulen und Kindertagesstätten aufgenommen werden dürfen. Der gesetzliche Eingriff in die Sphäre des eigenen Körpers ist damit bereits juristisch geöffnet.
Was könnte eine geistige Alternative anstelle unserer Logik von Kampf (Impfung und Medikamente) und Verstecken (Social Distancing) sein? Hier kann ein Blick in die Psychotherapie helfen: Wenn sich ein Mensch mit unangenehmen Symptomen in die Therapie begibt, geht es zunächst darum, ihn darin zu unterstützen, sich seiner psychischen Verdrängung und seines Vermeidungsverhaltens bewusst zu werden. In einem zweiten Schritt liegt die therapeutische Bewegung häufig darin, jenes Bekämpfte, Ausgeschlossene, das man auf keinen Fall haben möchte, in den eigenen seelischen Raum hineinzulassen.
In Bezug auf Symptome geht es um die Frage, was diese symbolisch an seelischen Gehalten in sich tragen und wie wir diese Inhalte und Botschaften seelisch verdauen. Heilung in einem psychologischen Sinne – nicht zu verwechseln mit Symptomfreiheit – geschieht zunächst im Aufgehen des vormals Abgewehrten im Seelenraum des eigenen Selbst.
Übertragen auf das Virus: Wir praktizieren ein absolutes Vermeidungsverhalten. Die einfache Botschaft „es ist da und es wird absehbar für einige Zeit bleiben“, darf nicht wahr sein. Es gehört unterdrückt, bekämpft, ausgestoßen. Die einfache Wahrheit lautet jedoch, es ist da und für manche von uns ist es gefährlich. Wie an anderen viralen Infektionskrankheiten werden Menschen hieran sterben. Für viele Menschen ist das Virus relativ ungefährlich, für einige wenige gefährlich und für manche tödlich. In der Abwägung des Umgangs mit diesem Dilemma liegt die gesellschaftliche Aufgabe, die wir Politik nennen.
Ein relatives Verhältnis entwickeln
Wenn das Virus da ist, stellt sich die Frage nach seiner Gefährlichkeit. Über kaum einen Vergleich wird so lautstark gestritten wie den zwischen Covid-19 und einer normalen Influenza-Grippe. Wer einmal eine echte Grippe hatte und nicht nur „grippeähnliche Symptome“, hat die Erfahrung gemacht, dass eine Grippe mehr als nur unangenehm sein kann.
2017 starben in Deutschland an einer Grippewelle 25.000 Menschen. Auch dies untermauert die Ernsthaftigkeit einer Grippeinfektion. Wenn Corona gefährlicher und tödlicher als die Grippe ist, stellt sich die Frage, wieviel gefährlicher. Was machen wir gesellschaftlich bei einer Grippeepidemie? Am Ende sehr wenig. Wir rufen die Risikogruppen zu einer Impfung auf, aber gesunde Menschen wurden bis dato nicht gezwungen, ihr Leben einzuschränken, wenn Ende Februar die Epidemien ihren Höchststand haben. Und bei Corona? Wir hatten fast zwei Monate einen Lockdown, die Atemschutzmaske prägt unseren Alltag, unser Bildungssystem ist in ein Chaos gefallen, hunderttausende Geschäfte werden dieses Jahr pleite gehen und so vieles mehr. In einem Bild: Wenn wir in den Kampf gegen die Grippe in den Jahren zuvor mit einem Küchenmesser gezogen sind, haben wir gegen Corona einen Atomkrieg angezettelt.
Diese schwersten Maßnahmen sind vollkommen nachvollziehbar in Bezug auf die ersten Prognosen, dass es sich um ein Killervirus handeln würde, das auf eine vollkommen fehlende Immunität der Bevölkerung treffen würde. Mittlerweile wissen wir mehr, und wenn Corona gefährlicher als die Grippe ist, so ist es trotzdem bei weitem nicht das, was wir im März befürchtet haben. Auch dies sollte gesagt werden dürfen, ohne als „Leugner“ oder „Verharmloser“ diffamiert zu werden. Wer jedoch einmal den Atomkrieg begonnen hat, dem fällt es schwer, irgendwann wieder mit harmloseren Waffen zu hantieren.
Auch hier bietet die psychotherapeutische Perspektive Erhellendes. Wenn Menschen mit neurotischen Symptomen eine Therapie aufsuchen, hat dies stets damit zu tun, dass sie sich in ihrem Fühlen, Denken und Handeln in Absolutheit verloren haben (siehe hierzu Wolfgang Giegerichs bahnbrechendes Buch: Neurosis. The logic of a Metaphysical Illness). Die Angst vor einer Spinne ist bei einem unter einer Phobie leidenden Menschen nicht mehr relativ, sondern es ist für ihn absolut undenkbar, sie zu berühren. Eine magersüchtige Patientin fühlt sich absolut „zu fett“, auch wenn sie nur noch aus Haut und Knochen besteht. Für einen narzisstischen Mann ist es absolut undenkbar, nicht der Mittelpunkt des Geschehens zu sein. In der Neurose regiert das Prinzipielle und Absolute, es gibt nur schwarz oder weiß. Sich der Spinne ein bisschen nähern, 3 Kilo zunehmen, sich ein wenig zurücknehmen – das alles ist unmöglich. Die Krankheit besteht darin, dass der Vielschichtigkeit der Wirklichkeit geistig ein Entweder-Oder übergestülpt wird. Kollektiv sind wir dabei, in Bezug auf Corona neurotisch zu werden – wenn wir es nicht schon sind.
Nicht wenige Wissenschaftler und Ärzte wie z.B. Hendrik Streeck sehen die Lage wesentlich differenzierter und entspannter, als sie in den Medien und der Politik verhandelt wird. Der öffentliche Diskurs ist dabei, sich abzuspalten vom wirklichen Geschehen, was seinen Ausdruck unter anderem im Totschweigen des Beitrags von Bhakdi und Reiss findet. Das Gefährliche in Konflikten mit absoluten, nicht verhandelbaren Positionen liegt darin, dass sie eine Eigendynamik entwickeln, wo jede Konfliktpartei in die Position kommt, den eigenen Standpunkt nicht mehr relativieren oder verändern zu können. Die befriedende Möglichkeit des Austauschs, des wechselseitigen Verständnisses, ein tatsächliches geistiges Ringen um die Wahrheit tritt zurück hinter das prinzipielle Ziel, die eigene Position zu verteidigen.
In Bezug auf Corona: Je härter und teilweise unsinniger die Mittel zur Eingrenzung des Virus, desto schwieriger wird es, den Menschen irgendwann auch wieder Risikobereitschaft und Zutrauen ins Leben zuzumuten. Dass ein angstfreies seelisches Wohlbefinden positive Auswirkungen auf das Immunsystem hat, wird mittlerweile auch von der Forschung belegt.
Die Bereitschaft zum Lernen
Eine weitere Tugend, die wir gerne pädagogisch vorbeten, mit der wir jedoch nicht nur bei Corona vollkommen anders umgehen, betrifft die Bereitschaft, Fehler und Erfahrungen zu machen und seine Meinung im Laufe eines Prozesses zu verändern, anzupassen, aufgeben und neu finden zu können. Wir können diese Tugend mit einem Wort umschreiben: Es geht um die menschliche Fähigkeit zu lernen. Wir müssen vom Virus lernen. Es ist neu, in vielerlei Hinsicht gibt uns seine Wirkung Rätsel auf.
Ein Beispiel, von dem wir lernen könnten, wenn wir uns nicht ideologisch verbarrikadieren: Schweden war der einzige westeuropäische Staat, der während der Hochzeit der Epidemie nicht seine Schulen schloss. Mit 63 Infektionen bei Kindern hatte man pro Kopf in etwa so viele Infizierte wie das Nachbarland Finnland, das die Schulen geschlossen hatte. Auf welcher Grundlage nötigt man die Kinder nun in Deutschland dazu, in den Pausen und zum Teil sogar im Unterricht eine Maske zu tragen, wenn ihre schwedischen Altersgenossen sogar gut ohne durch die Zeit gekommen sind, in der das Virus tatsächlich grassierte? Die Befürchtung ist, dass es sich nicht mehr um wissenschaftliche, sondern vielmehr politische und mediale Motive handelt, um das Stillen irrationaler Ängste in der Bevölkerung und schließlich den Kampf um den CDU-Vorsitz und die Kanzlerkandidatur von Armin Laschet und Markus Söder.
In einem öffentlichen Klima, wo ein Entscheidungsträger für jeden Corona-Toten verantwortlich gemacht wird, in der die Anzahl der Infektionen (und paradoxerweise nicht die Zahl der tatsächlichen klinischen Krankheitsverläufe) die wichtigste Kennzahl für gute Regierungsführung ist, setzt sich ein Absolutismus der absoluten Risikominimierung durch. Lieber immer mehr Einschränkungen und Regelungen, statt zu sehen, dass wir 2017 bis jetzt noch immer zweieinhalbmal so viele Grippetote wie 2020 Coronaopfer hatten.
Wirklich heikel wird es, wenn wir versuchen, die indirekten Opfer der Corona-Politik zu erfassen, wie dies ein Referendar aus dem Innenministerium in einer Analyse versuchte und hiermit auf dem Betriebsweg keinerlei Gehör bei seinen Vorgesetzten fand, so dass er sie schließlich als Whistleblower im Internet veröffentlichte. Operationen, die nicht stattfinden, Arzt- und Krankenhausbesuche, die sich nicht mehr getraut werden, eine vermutlich baldige hohe Mehrung an Suiziden und psychischen Krankheiten aufgrund von Bankrotten und so vieles mehr. So wie die Medien im August das Buch von Bhakdi und Reiss ignorieren, wurde auch die durchaus profunde Analyse eines politischen Experten zum Lockdown inhaltlich einfach totgeschwiegen, statt über sie debattieren und die Argumente in einem offenen, transparenten Diskurs zu widerlegen.
Die Empfehlungen der WHO sind uns sakrosankt und das eigene Denken ist entmündigt. Das politisch Gefährliche daran liegt darin, dass sich jede andere legitime Einschätzung, die nicht dem Zeitgeist der Öffentlichkeit entspricht, nun andere Medien suchen muss, um sich zu artikulieren. Es gibt Wut, Enttäuschungen und wiederum Übertreibungen. Da man aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen wird, finden sich vernünftige Kritiker zur Corona-Politik auf einmal in Gesellschaft mit braunen oder linken Verschwörungstheoretikern, Neonazis, die den Reichstag stürmen wollen und Menschen, die ohnehin per se gegen das System und alles sind, bzw. werden medial in deren Gesellschaft gerückt.
Politiker müssen und dürfen Fehler machen. Solange wir an unsere politischen Entscheidungsträger den kollektiven Anspruch auf Fehlerfreiheit haben, bezahlen wir ihn damit, dass wir von Angsthasen regiert werden. Statt starke Väter und Mütter oder allwissende Götter sind unsere Politiker kleine fehlbare Menschlein wie wir selbst. Wenn wir ihnen dies zugestehen würden, könnten wir tatsächlich etwas gewinnen, was wir angeblich fordern, aber dennoch fast nie hören möchten: Ehrlichkeit und den Mut zu einem Eingeständnis von Fehlern und Unwissenheit.
Dass es auch anders gehen kann, zeigt ein Blick in eines unserer kleinen Nachbarländer. Der österreichische Regierungsberater Franz Allerberger, Professor für Infektiologie, Leiter des Geschäftsfeldes Öffentliche Gesundheit der österreichischen Agentur für Gesundheit und Nahrungsmittelsicherheit (AGES), hat im August in einem bemerkenswerten Interview ganz offen über Fehleinschätzungen und kommende Herausforderungen der Corona-Situation gesprochen (hier bei Youtube).
Dabei geht er, ohne seine früheren Prognosen zu rechtfertigen, davon aus, dass die Sterblichkeit bei Corona-Infektionen bei 0,25% läge, also recht genau auf der Höhe einer normalen Grippeepidemie (d.h. einer von 400 Infizierten würde nach der Statistik an Covid19 sterben). Die Politik habe man seinerzeit auf Basis eines Wissens beraten, das sich nun geändert habe. Covid19 sei etwas gefährlicher als Influenza, aber hinsichtlich seiner Mortalität nicht annährend so gefährlich wie die Spanische Grippe, die man zu Beginn als Referenzepidemie heranzog. Für den Herbst und Winter rät er bei dem zu erwartenden Anstieg von Erkältungssymptomen zu einem „Mut zum Risiko“, da weder ausreichende Testkapazitäten für jeden Infekt mit Halsschmerzen da seien, noch die Menschen bei jeder Erkältung die Arbeit ruhen lassen sollten.
Leben ohne Feinde
Ein letzter Gedanke zu dem Phänomen, was das Virus im Bewusstsein angestoßen hat. Zunächst eine kurze Frage: Wann war der letzte schwere, international geplante Terroranschlag, an den Sie sich erinnern? Richtig, es ist nicht leicht sich zu erinnern (es fallen einem eher die hiesigen nazistischen Taten von Hanau und Halle ein), denn spätestens seit Corona war scheinbar auch unser „Hauptfeind“, der internationale islamistische Terrorismus, mit Pandemiebekämpfung und Angstmanagement beschäftigt und konnte sich nicht um sein Kerngeschäft kümmern. Zumindest erscheint es medial so.
Es macht fast den Anschein, als sei der Mensch nicht dafür geschaffen, ohne Feind und Angst zu leben. Wenn die westlichen Gesellschaften nun nicht mehr vom Terror gequält werden, dessen einziges politisches Kapital darin liegt, über die Angst der Menschen zu regieren, ist der „Krieg gegen das Virus“ (Emanuel Macron) nun der neue Konflikt, der uns alle mobilisieren soll. Einer muss den Job des ersten Bösewichts übernehmen. Wenn sich der Feind Covid-19 nun als ernst, aber letztlich weniger gefährlich entpuppt, als zunächst befürchtet? Das fällt nicht mehr ins Gewicht, wenn die innere und äußere Kriegsmaschinerie ins Rollen gekommen ist und der Archetyp des Feindes einmal im kollektiven Geist konstelliert ist. Die psychologische Perspektive zielt auf nichts anderes, als die Bewusstwerdung dieses Geschehens und die Wirkung, die sich aus der Begegnung mit dieser Einsicht ergibt.
Die letzte Erfahrung
Dieser Aufsatz endete ursprünglich an dieser Stelle und ich hatte ihn zur Veröffentlichung freigegeben. Heute morgen traf ich einen alten Freund, den ich länger nicht gesehen hatte. Nachdem ich mich nach der Begrüßung etwas über die neuesten Corona-Maßnahmen und Reisewarnungen echauffierte, die mich betreffen, erzählte er mir, dass er letzte Woche auf einer Beerdigung gewesen sei. Sein bester Freund ist mit Mitte 40 gestorben an einer Herzmuskelentzündung nach einer Covid-19-Infektion. Er hinterlässt seine Frau und zwei Kinder im Alter 8 und 12 Jahren. Eingefangen hatte er sich das Virus bei einer Fortbildung, die der Leiter mit Atemwegssymptomen durchführte, die sich im Nachhinein als Covid-19-Infektion darstellten.
Es war das erste Mal, dass ich in meinem Umfeld vom Tod eines Menschen an Corona erfahren habe. Mich selbst traf eine tiefe Scham über mein Geschwafel, dass er sich zu Beginn unseres Treffens anhören musste. Auch habe ich mich gefragt, ob mir bei dem, was ich in diesem Aufsatz in den letzten 5 Wochen geschrieben habe, jegliche Demut vor dem abhandengekommen ist, was das Virus für manche bedeutet. Vielleicht werde ich diesen Text nach einem sehr schwierigen Winter, der vor uns steht, kopfschüttelnd lesen und mich dafür schämen. Vielleicht werde ich, wenn wir die Krise durchgestanden haben, auch darauf schauen mit dem Gedanken, dass ich doch einen richtigen Riecher mit meinen Perspektiven hatte. Vielleicht werde ich selber krank werden und aufgrund meiner Vorerkrankungen Corona auf eine ganz andere Weise kennenlernen als aus den Berichten der Medien. Vielleicht trifft es jemanden aus meiner Familie. Am Ende weiß ich nichts Sicheres über das, was geschieht, aber mein Gefühl sagt mir, dass wir zumindest offen darüber sprechen sollten.
Malte Nelles, veröffentlicht am 23.09.2020
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