Alt werden und alt sein – Verlust oder Gewinn?

Alt werden und alt sein – Verlust oder Gewinn?

Von Wilfried Nelles

Erweiterte Transkription eines Vortrags im Ausbildungskurs der Hauptstufe des Nelles-Instituts am 21. August 2025, Teil 1

Warum widmen wir uns so intensiv dem Thema Altern? Nicht, weil wir gegen das Altern sind. Wohl aber, weil wir erkannt haben, dass es für die wesentlichen Erkrankungen, die unser Schicksal im 21. Jahrhundert bestimmen – das sind hauptsächlich Herz-Kreislauferkrankungen, Osteoporose, Demenz und auch Krebserkrankungen – einen gemeinsamen, entscheidenden Risikofaktor gibt: den Alterungsprozess. Unsere sogenannten Zivilisationskrankheiten sind im Wesentlichen altersabhängige Erkrankungen.

Die Mechanismen des Alterungsprozesses zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus gezielte Therapien gegen eben jene altersabhängigen Erkrankungen zu entwickeln, ist daher das Ziel der Anti-Aging Medizin. Die wandelt sich bereits seit Jahren von einer anfänglich etwas belächelten Modemedizin hin zu einer weltweit anerkannten Präventionsmedizin, in der Ärzte und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen interdisziplinär zusammenarbeiten.“

Text auf der Startseite der „German Society of Anti-Aging Medizine“, www.gsaam.de, Hervorhebung von mir.

 

Was neu war, wird alt

Wir befassen uns in diesem Kurs mit dem Thema „Alter“ – mit Fragen wie: Welche Bedeutung hat das Alter im menschlichen Leben? Wie gehen wir mit dem Altwerden innerlich und äußerlich um, was macht es mit jedem von uns ganz persönlich? Welchen Platz hat das Alter in unserer modernen Kultur und wie beeinflusst diese kulturelle Sicht auf das Alter uns als einzelne? Oder, ganz einfach formuliert: Ist Altsein etwas Schlechtes? Oder könnte es sogar etwas Gutes sein?

Wie die Medizin – und mit ihr das moderne Bewusstsein, das in der Haltung der Medizin seinen konkreten Ausdruck findet, insgesamt – das sieht, drückt das Eingangszitat sehr klar aus: Alter ist ein „Risikofaktor“ – was in letzter Konsequenz nichts anderes bedeutet als: Man muss diesen Risikofaktor, der für fast alle schweren modernen Krankheiten verantwortlich sein soll, so weit es geht ausschalten. Ich komme später darauf zurück. Zunächst beginne ich ganz persönlich.

Ich hatte das „Glück“, vor zwei Jahren an Krebs erkrankt zu sein. Dadurch ist etwas, das bereits drei Jahre zuvor, mit Beginn des Corona-Geschehens, eingesetzt hatte, noch einmal viel tiefer geschehen. Damals wurde mir bewusst, dass ich alt bin. Natürlich wusste ich das im Kopf auch vorher schon, aber gefühlt habe ich es nicht.

Als die Corona-Pandemie begann, war ich im 72. Lebensjahr. Gelebt hatte ich bis dahin jedoch mehr oder weniger wie ein Fünfzigjähriger, und gefühlt habe ich mich auch so. Mein Körper funktionierte bestens, mein Geist war lebendig und kreativ, ich habe täglich – einschließlich der Wochenenden – gearbeitet und bin dabei viel und weit gereist, und auch auf andere Menschen habe ich deutlich jünger gewirkt, als ich es tatsächlich war. Erst mit den Lockdowns und all den Einschränkungen und der latenten Bedrohung, die besonders in den ersten Monaten wie ein Damoklesschwert über der gesamten Gesellschaft hing: auch dich könnte es treffen und dann stirbst du womöglich sehr schnell, wurde mir das Altsein deutlicher bewusst. Es war Frühjahr und ich wusste: Im September würde ich 72 werden. Heute, fünf Jahre später, bin ich kurz vor meinem 77. Geburtstag. Zum durchschnittlichen Sterbealter von Männern in Deutschland sind es noch zwei Jahre.

Damals ist mir etwas aufgefallen: In meinem Leben hat sich etwa alle zwölf Jahre etwas Wesentliches verändert. Und 72 ist sechs mal zwölf. Jetzt beginnt die siebte Runde – und wenn ich die vollende, werde ich 84 sein. Mit 84 ist meine Mutter gestorben. Also sagte ich mir: Wenn du Glück hast und die Pandemie überlebst – die mir damals allerdings schon verdächtig vorkam –, dann gehst du vielleicht auf deine letzte Zwölf-Jahres-Runde. Vielleicht gibt es danach noch eine Zugabe, aber du bist alt und der Tod ist nicht mehr fern.

Diese Einsicht hat in mir gearbeitet. Es war nichts Schlimmes, es hat mir sogar gutgetan, mich ruhiger gemacht in dem Corona-Irrsinn. Wenn ich sowieso bald sterbe, wozu dann mit all den Panikern mitlaufen? Sicherlich hat die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in jener Zeit dazu beigetragen, dass ich mich stärker als zuvor nach innen orientiert habe. Sie hat zugleich meine rebellische Seite geweckt, die sagte: „Aber nicht mit mir.“ Das betraf jedoch eher meine äußere Haltung zu der Angst, die verbreitet wurde, und zu den Maßnahmen – ich habe schnell die Lügen und die Angstmache erkannt und hatte persönlich nie Angst vor dem Virus.1 Innerlich habe ich mich zunehmend mit dem Altwerden auseinandergesetzt und bin langsam hineingewachsen.

Noch mitten in der Corona-Zeit bekam ich dann die Krebsdiagnose. Sie hat das Ganze noch einmal vertieft. Der Tod war plötzlich nicht mehr nur ein abstrakter Gedanke, wie es normalerweise der Fall ist. Natürlich wissen und erleben wir, dass Menschen sterben, aber es berührt uns, wenn überhaupt, meist nur flüchtig. Wirklich nahe geht es einem erst, wenn ein naher Angehöriger stirbt oder man selbst von einer tödlichen Krankheit getroffen wird. Und selbst dann neigt man dazu, das Erlebte schnell wieder zu vergessen.

Durch meine Erkrankung – und auch durch die Arbeit, die ich hier tue – wurde mir jedoch die eigene Sterblichkeit und Hinfälligkeit auf eine Weise bewusst, die ich nicht mehr so leicht wegschieben konnte. Viele von euch haben mich ja in dieser Zeit erlebt und am Rande mitbekommen, wie es mir ging. Ich sage bewusst: Ich hatte das Glück, Krebs zu bekommen. Und ich habe das Glück, ihn offenbar überstanden zu haben. Natürlich kann er jederzeit zurückkehren – sicher weiß man das nie. Aber mein Gefühl ist, dass ich wieder gesund bin. Mit gewissen Einschränkungen zwar, die aber nicht gravierend sind. Insgesamt geht es mir gesundheitlich gut.

Gleichzeitig wurde mir klar: Jetzt bin ich alt. Seitdem erst erlebe ich bei mir selbst, wie sehr wir uns innerlich gegen diese Einsicht sträuben. Das merke ich an etwas so Banalem wie meinem einzigen verbliebenen Hobby, dem Golfspiel. Wenn ich den Ball schlage und er fliegt 30 Meter kürzer als früher, reagiere ich mit: „Das kann doch nicht wahr sein! Das muss doch wieder gehen.“ Dass es nicht mehr geht und nie mehr gehen wird, ist schwer zu verkraften – wir wollen es nicht wissen, obwohl wir es wissen. Ein Teil von mir will es einfach nicht glauben und schämt sich sogar, wenn ich für eine relativ kurze Distanz einen Schläger nehmen muss, den ich früher nur bei langen Schlägen benutzt habe.

Jeder mag an die Stelle des Golfspiels ein anderes Beispiel setzen – es geht immer um die gleiche Erfahrung: den Widerstand gegen die Grenzen des Alters. Wir bewegen uns innerlich in der Illusion, dass es nicht sein darf: dass dies nicht mehr geht, dass jenes nachlässt, dass uns dies oder das verwehrt bleibt, weil es für immer vorbei ist. Dass die Jugend längst vorbei ist – und zwar für immer, unwiderruflich -, ist zwar die Wahrheit, aber die wollen wir nicht sehen. Und dass sich etwas nicht reparieren oder gar zurückdrehen lässt, nehmen wir allenfalls widerstrebend und gleichsam irritiert zur Kenntnis.

Doch das ist nur die eine Seite. Es gibt auch eine andere. Und die meine ich, wenn ich von Glück spreche. Wenn ich nicht auf das schaue, was mir verloren geht oder nicht mehr funktioniert, sondern darauf, was mir das Alter – und auch der nahende Tod – schenkt, dann öffnet sich in mir ein ungeheuer weiter Raum. Es entsteht eine tiefe Freude, wie ich sie nie zuvor in meinem Leben empfunden habe. Dafür bin ich all den Erfahrungen, selbst den schweren Schmerzen, die ich durchlebt habe, zutiefst dankbar.

Mal befinde ich mich stärker auf der einen Seite, mal mehr auf der anderen. Im Alltag erlebe ich mich häufiger auf der Seite, die sagt: „Es müsste doch eigentlich noch funktionieren.“ Zugleich ist die andere Seite dabei und lächelt darüber. Und wenn ich nachts aufwache – was früher nie vorkam, inzwischen jedoch öfter geschieht – und dann vielleicht eine Stunde wach bin, empfinde ich das nicht mehr als etwas Negatives – es sei denn, ich hätte starke Schmerzen. Vielmehr sehe ich es als Gelegenheit, still zu sitzen und in Meditation zu sein, ohne etwas Besonderes zu tun.

Dann öffnet sich ein weiter, stiller, fast seeliger Raum, in dem nichts mehr stört, es kein Problem mehr gibt, nur noch stilles Dasein, stille Präsenz. Der Krebs hat mir die Tür zu diesem Raum gezeigt – hindurchgehen muss ich jedoch allein, das tut niemand für mich, auch eine Krankheit nicht. Hindurchgehen heißt: nicht zurückschauen, nicht nach (vermeintlichen) Ursachen für den Krebs suchen, nicht an dem hängen und dem nachtrauern, was vorbei ist, oder gar versuchen, es zurückzuholen, sondern sich mit einem „Danke“ von allem verabschieden, was war, und sich dann umdrehen und dem entgegenschauen, was kommt, seine Ankunft („Advent“) mit offenem Herzen zu erwarten.

Das ist im Moment meine ganz persönliche Erfahrung, in der ich mittendrin stehe. Es passt dazu, dass ich nicht nur an diesem Wochenende ein Seminar zum Thema Alter gebe – was mich zwangsläufig veranlasst, mich noch einmal intensiver innerlich darauf einzulassen –, sondern auch letzte Woche eine Anfrage für ein Rundfunkinterview zum Thema Alter erhalten habe, genauer gesagt zum Thema „Ist Alter eine Krankheit?“. Das, was ich dazu zu sagen habe, ist keine leichte Kost.

Alter als Krankheit und „Risikofaktor“ – Der medizinische Blick

Zunächst einmal: Alter wird heute tatsächlich in vielerlei Hinsicht wie eine Krankheit behandelt. In der Medizin existiert eine eigene Spezialdisziplin, die sich „Anti-Aging“ – also „gegen das Altern“ – nennt (und gleichzeitig behauptet – siehe oben -, man sei nicht gegen das Altern – man heißt halt nur so). Sie hat, siehe das Eingangszitat von der Website der Deutschen Anti-Aging-Gesellschaft, einen „gemeinsamen, entscheidenden Risikofaktor“ für „die wesentlichen Erkrankungen, die unser Schicksal im 21. Jahrhundert bestimmen“, ausgemacht: den „Alterungsprozess“. Diese Aussage ist so banal und zugleich so verrückt, dass man nicht glauben mag, das hochgebildete und intelligente Leute sie vertreten. Ich kann es mir nur damit erklären, dass unser gesamtes Denken so tief im modernen Bewusstsein und seinem Kampf gegen die Natur2 versunken ist, dass man die einfachsten Dinge nicht mehr sieht.

Natürlich ist das Alter der „Risikofaktor“ für das Sterben, und, je länger man lebt, auch für alle Krankheiten, die zum Tod führen. Je älter man wird, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass man stirbt; umso höher auch die Wahrscheinlichkeit, dass Herz und Nieren, Leber und Lunge, Arme und Beine und auch das Gehirn nicht mehr so gut oder gar nicht mehr funktionieren. Die statistischen Korrelationen sind sagenhaft eindeutig. Welch eine großartige Erkenntnis! Abgesehen davon, dass das Alter auch der mit Abstand größte gemeinsame Risikofaktor für das Kaputtgehen von Straßen, Brücken, Häusern, Autos und allem anderen ist: Warum nicht gleich das Leben selbst als den noch größeren Risikofaktor benennen? Denn hier ist es noch eindeutiger: Es ist noch niemand gestorben, der nicht gelebt hat. Also ist das Leben der mit Abstand größte Risikofaktor für den Tod – und auch für Krankheiten, denn es ist auch noch niemand krank geworden, der nicht lebt. Jetzt, immer schön brav der Statistik gefolgt, haben wir den größten Feind: das Leben.

Ich erwarte von einem Gynäkologen, Kardiologen oder Virologen nicht, dass er viel von empirischer Sozialforschung und Statistik versteht – zumindest spielt das in deren Studium und praktischer Ausbildung keine Rolle. Dann sollten sie aber wie der alte Schuster bei ihrem Leisten bleiben. Das Alter als gemeinsamen Risikofaktor für unsere modernen Krankheiten zu bezeichnen, ist an Dummheit nicht zu überbieten – es sei denn, es steckt etwas ganz anderes dahinter, es ist eine Nebelkerze für das ganz große Geschäft. Aber wahrscheinlich glauben die Ärzte selbst an solche Geschichten, wie auch die meisten, die solche Aussagen lesen, ganz selbstverständlich daran glauben (ich habe es im Bekanntenkreis getestet), denn unser Bewusstsein, die moderne Kultur, denkt so. Die Medizin ist nur die Speerspitze bei der Durchsetzung der modernen Agenda, die Natur so weit wie möglich auszuschalten.

Zugleich tut die Medizin alles, damit die Menschen so alt wie nur möglich werden. Ihr eigentlicher Feind ist nicht die Krankheit, sondern der Tod. Der Tod ist das, was der Mensch noch nicht im Griff, noch nicht unter seine Herrschaft gebracht hat. „Gottes Umzug ins Ich“ (Malte Nelles)3, das große christliche Projekt, ist noch nicht fertig, der letzte Schritt fehlt noch: die Überwindung des Todes. Der Tod widersetzt sich – immer noch – dem menschlichen Allmachtsanspruch. Um ihr „opus magnum“ (Wolfgang Giegerich) zu vollenden, muss die christliche Seele ihn nicht nur im Einzelfall zu verhindern versuchen (das hat die Medizin immer und überall getan und ist auch ihre Aufgabe), sondern ihn überwinden.

Damit will ich den Beitrag, den die Medizin zur Heilung oder Verlangsamung von Krankheitsprozessen und zur Linderung von Altersbeschwerden leisten kann, nicht abwerten. Sich darauf zu konzentrieren und nach Wegen zu suchen, diese mit zunehmenden Alter unvermeidlichen Krankheiten zu behandeln, und zwar so, dass daraus nicht andere Krankheiten oder Medikamentensüchte entstehen, wäre ihre ursprüngliche und Respekt gebietende Aufgabe. Auch die der Pharmaindustrie und medizinischen Forschung. Damit hätte die Medizin, hätte jeder Arzt und jedes Krankenhaus gegenwärtig und auch noch in den nächsten 20 Jahren mehr als genug zu tun, denn die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge sind jetzt in Rente. Und das ist eine Generation, die ihr gesamtes Leben, von der Kindheit bis heute, im wohlhabendsten, sichersten, sorgenfreiesten Deutschland aller Zeiten gelebt hat, was sicher viel dazu beigeträgt, dass viele davon ziemlich alt werden. Das bedeutet auch, ganz unabhängig von sogenannten Fortschritten der Medizin, dass wir derzeit in Deutschland allein aufgrund der Geburtenrate und der historisch einmalig günstigen Lebensverhältnisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr viele alte Menschen haben. Und deren Körper werden zunehmend schwächer und auch krank – das ist die Natur des Lebens.

Vor etwa einem Jahr habe ich ein umfangreiches Buch zu den Bemühungen gelesen, die Lebenszeit mindestens zu verdoppeln, wenn nicht sogar den Tod zu überwinden: Homo ex Machina4 (Der Mensch aus der Maschine). Darin geht es im Wesentlichen um die Bestrebungen in den USA, ein langes Leben (500 – 1000 Jahre) oder gar Unsterblichkeit zu erreichen – den so genannten Transhumanismus, der die Menschheit, so seine Protagonisten, auf eine neue Evolutionsstufe heben soll. Manche mögen das als Spinnerei abtun, doch das ist es keineswegs, das Buch liefert dazu viele interesssante Informationen. Es wird ungeheuer viel Geld investiert. Die großen Internetkonzerne sind beteiligt; Google beispielsweise hat eine eigene Firma zu diesem Zweck gegründet, und zahlreiche andere schwerreiche Akteure sind ebenfalls involviert.

Die Autoren des Buches sind Stefan Lorenz Sorgner, ein deutscher Philosoph, der in Rom lehrt, und Bernd Kleine-Gunk, ein Gynäkologe und Professor, der zugleich Präsident der Deutschen Gesellschaft für Anti-Aging-Medizin ist. Den oben abgedruckten Text von der Homepage der Gesellschaft hat er verfasst. Ich habe das Buch gelesen, um zu verstehen, was in dieser Szene gedacht und gemacht wird.

Eine Grundaussage ganz zu Anfang lautet: Die Menschen werden immer älter, in den letzten 150 Jahren hat sich die Lebenszeit verdoppelt – das ist natürlich gewaltig, und man liest es auch an anderen Orten immer wieder, und die unterschwellige Botschaft ist: Das verdanken wir den Fortschritten der Medizin und der Technik, und wenn wir unsere Anstrengungen auf diesem Gebiet verstärken und die Menschen uns folgen, werden bald alle doppelt und dann wiederum doppelt so alt. Da stehen dann Aussagen wie die, dass der erste Mensch, der tausend Jahre alt wird, heute schon geboren sein soll.

Hier sind wir bei einem Thema, das man auch aus anderen Bereichen kennt: Wie man mit Statistik lügen oder, vornehmer ausgedrückt, falsche Eindrücke erzielen kann. Denn die Menschen werden nicht wirklich immer älter, auch 1900 hat es schon Hundertjährige gegeben, wenn auch weniger als heute. Es gibt zwar mehr Menschen, die ein hohes oder gar sehr hohes Alter erreichen, das stimmt, hat aber kaum etwas mit medizinischem Fortschritt zu tun. Denn die absolute Lebensspanne des Menschen verändert sich nicht. Wenn die Medizin tatsächlich Leben verlängern könnte, müsste aber genau das der Fall sein.

Was sich verändert, ist das durchschnittliche Lebensalter – das ist die Zahl, die sich seit 1870 verdoppelt hat (wobei anzumerken ist, dass bei solchen Statistiken die Wahl des Ausgangsjahres das Ergebnis weitgehend bestimmt – hätte man 1920 genommen, wäre der Effekt weit weniger eindrücklich). Der Hauptgrund dafür ist, dass weniger Kinder sterben. Schon wenn nur ein paar Kinder mehr überleben, steigt der Durchschnitt erheblich. 1870 starb jedes vierte Kind innerhalb des ersten Lebensjahres, das sind 25 Prozent. Heute sind es noch drei Prozent. Würde man die 22 Prozent der im ersten Lebensjahr gestorbenen Kinder aus der Statistik herausnehmen, wäre man schon 1900 bei einem Durchschnittsalter angekommen, das nicht viel unter dem heutigen liegt. Von der Verdopplung der Lebenszeit bliebe kaum etwas übrig. Hinzu kommt, dass viele junge Menschen in den Kriegen starben, was sich statistisch ebenfalls stark auswirkt.

Die Medizin hat daran nur einen äußerst geringen Anteil, es ist eine Folge des gestiegenen Wohlstandes und der damit veränderten Arbeits-, Wohn- und Lebensverhältnisse und Hygiene. Heute muss keine Frau ihr Kind mehr in ungeheizten, feuchten und kalten Räumen, fast frostig im Winter, zur Welt bringen – unter Bedingungen also, bei denen viele Neugeborene sehr schnell starben. Früher arbeiteten viele Menschen in der Landwirtschaft, im Bergbau, wo sie mit 40 Jahren oft schon eine kaputte Lunge hatten, an Hochöfen und bei Höllenlärm in den Fabriken oder bei Wind und Wetter im Freien ohne wasserdichte und warme (Schutz-)Kleidung und ohne all die Maschinen, die schwere Arbeit heute ersetzen.

Wie stark die Arbeitsbedingungen die Lebenszeit beeinflussen, kann man auch heute noch daran sehen, dass Beamte und Angestellte im Durchschnitt fünf Jahre älter werden als Arbeiter. Beide Gruppen haben die gleiche medizinische Versorgung. Der Unterschied liegt nur darin, dass Angestellte und Beamte in trockenen und geheizten Räumen arbeiten und sich körperlich nicht anstrengen müssen, während Arbeiter oft Wind und Wetter ausgesetzt sind und ihr Körper viel stärker belastet wird. Das allein führt schon zu einem Unterschied von durchschnittlich fünf Lebensjahren. Mit Medizin hat das nichts zu tun.

Dementsprechend war der steilste Anstieg der durchschnittlichen Lebenszeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Inzwischen steigt sie in Deutschland nur noch marginal an, in den USA geht sie sogar zurück. Ich habe das Herrn Kleine-Gunk übrigens geschrieben, und er hat mir all dies sehr freundlich bestätigt. Der Eindruck, es läge an den Fortschritten der Medizin, bleibt aber trotzdem und dürfte auch gewollt sein.

Dass die Medizin die Lebenszeit nicht verlängert, wird besonders deutlich, wenn man auf die absolute Lebenszeit schaut. Die ältesten Menschen der Welt leben abseits der modernen Zivilisation auf Okinawa, einer japanischen Insel, der griechischen Insel Ikaria (8.500 Einwohner), in einem abgelegenen Teil von Sardinien und auf einer Halbinsel in Costa Rica. Dort spielt die moderne Medizin kaum eine Rolle. Vielmehr sind es andere Faktoren: warmes Klima, natürliche Ernährung, naturnaher, traditioneller Lebensstil. Vor allem aber: Die Menschen sind in Familien und Gemeinschaften eingebunden und das Alter wird geehrt, anstatt als Krankheit gilt es als die Krönung des Lebens. Und gesund sind die Alten dort auch, viel gesünder als hier, wo sie von der Medizin zwar am Leben gehalten, aber eben nicht gesund gemacht werden.

Vorsorge

Uns wird aber eine andere Geschichte erzählt, womit ich zum nächsten Punkt komme: Vorsorgemedizin. Wir sollen ja alle umfassend Vorsorge betreiben. Vor zwei Jahren hatte ich – aus einem unmittelbaren Anlass heraus – eine Magenspiegelung. Bevor sie mir das Narkosemittel spritzte, sagte die Krankenschwester zu mir: „Sie kennen das ja sicher, Sie haben bestimmt schon ein paar Mal eine Darmspiegelung gemacht.“ Als ich erwiderte: „Nein, noch nie“, schaute sie mich überrascht und sehr vorwurfsvoll an: „Wie bitte? Noch keine Darmspiegelung?“ Woraufhin ich entgegnete: „Stellen Sie sich vor – ich lebe noch!“

Es wird uns vermittelt, dass wir zwingend Vorsorge treffen müssen – und wenn wir das nicht tun, gelten wir als unverantwortlich. Die Wartezimmer der Ärzte sind voll mit Plakaten und Prospekten, in denen man aufgefordert wird, sich gegen jede nur denkbare Krankheit zu schützen, indem man sich regelmäßig checken – und natürlich impfen oder sonstwie vorsorglich behandeln – lässt. In den Arztpraxen hängen große Plakate: „Wie ist Ihr Impfstatus?“ – „Haben Sie alle Impfungen?“ Auf einem Plakat, das mir letzte Woche begegnete, waren ein Mann und eine Frau abgebildet mit Pfeilen, die auf etwa zehn Körperteile zeigten, an denen man Krebs bekommen kann, wenn man sich nicht gegen das „Humane Papillomavirus (hpv)“ impfen lässt. Das macht Menschen, die dazu neigen, natürlich Angst – und genau das soll es auch.

Bei Frauen beginnt der Vorsorgedruck bereits ganz früh. Schon Jugendliche sollen in regelmäßigen Abständen den Gynäkologen aufsuchen. Später kommt die Mammographie hinzu, die wahrscheinlich mehr schadet als nützt, wobei Statistiken, die das Gegenteil behaupten und längst widerlegt sind, immer noch benutzt werden. Die Botschaft ist: Unterlässt du Vorsorge, könntest du sterben – und wärst dann auch noch selbst schuld.

Ich nenne das ein Leben im Konjunktiv: Könnte, hätte, wäre. Es könnte sein, dass eine Zecke mich infiziert. Es könnte sein, dass ich Gürtelrose bekomme – und das sei im Alter besonders gefährlich. Von der alljährlich propagierten Grippeimpfung (die ich noch nie gemacht habe) ganz zu schweigen. Ja, das ist alles vollkommen richtig und vollkommen wissenschaftlich: Es könnte nämlich tatsächlich sein, ebenso wie mir ein Vogel auf den Kopf scheißen könnte, wenn ich nach draußen gehe (also nie ohne Hut ins Freie gehen). Was aber vollkommen unwissenschaftlich ist, ist die sublime Botschaft, die damit einhergeht und um die es tatsächlich geht: Wenn du alle Vorsorgemaßnahmen einhältst (und dich gegen alles impfen und auch darüberhinaus vorbeugend behandeln lässt), bist du geschützt, bleibst rüstig und wirst hundert Jahre alt.

Ich möchte dazu nur ganz kurz einen psychologischen Faktor erwähnen: Wer sich ständig um seine Gesundheit sorgt – und das wird einem mit der Vorsorgemedizin aufgedrängt -, wird schneller krank. Das lässt sich zwar schwer empirisch belegen, ist aber, nunmehr im richtigen Sinne des Wortes, evident. Sorgen machen krank, Ängste machen krank, und wer ständig zum Arzt rennt, um zu schauen, ob sich unter der Oberfläche vielleicht etwas Böses zusammenbraut, ist in aller Regel ein eher ängstlicher Mensch.

Parallel dazu hat sich ein weiterer Bereich etabliert: Schönheitsoperationen und Ersatzteilchirurgie. Ging es bei ersteren früher um die Beseitigung von Missbildungen, so geht es heute um Idealbilder, die über das Internet verbreitet werden, aber auch in den Prospekten, die in Arztpraxen liegen, beworben werden. Junge Frauen lassen sich bereits intimchirurgisch operieren, um einem durch soziale Medien und Pornos verbreiteten Idealbild ihrer Geschlechtsteile zu entsprechen. Andere greifen zu Brustvergrößerungen oder Fettabsaugungen und spritzen sich alles mögliche unter die Haut, von Botox bis zu tierischen Stammzellen. Und natürliche Altersprozesse werden zunehmend als behandlungsbedürftige Krankheiten dargestellt: Wechseljahre, Potenzverlust, Sehstörungen oder Gelenkverschleiß. Künstliche Gelenke sind längst Routine.

Ich will damit nicht sagen, dass medizinische Eingriffe grundsätzlich abzulehnen sind. Wenn Schmerzen unerträglich werden oder nicht mehr funktionierende Gliedmaßen ersetzt werden können, ist es ein Segen, dass die Medizin helfen kann. Doch oft geht es nicht um zwingende Notwendigkeit, sondern um den Wunsch nach reibungslosem Funktionieren. Man muss unterscheiden: Erfolgt eine Operation, um Leiden zu lindern und Lebensqualität zurückzugeben? Oder geht es darum, (oft nur kleine) Einschränkungen zu beseitigen, nur um das gewohnte Leistungsniveau aufrechtzuerhalten?

Und man muss sehen: Alles hat zwei Seiten. Ob eine Organtransplantation einen wirklich gücklicher oder zufriedener und – in einem ganzheitlichen Sinne – wieder „heil“ macht, scheint mir eine offene Frage zu sein. Und wenn Elon Musk es mit seinem Neurolink-Programm – d.h. der Schaffung einer Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer durch implantierte Chips – tatsächlich schaffen sollte, dass Gelähmte zum Beispiel per Gedankenkraft Computer so steuern können, dass diese die ausgefallenen körperlichen Funktionen ersetzen, dann muss man auch die Möglichkeit sehen, dass Computer (KI) die Gedanken dieser Menschen steuern.

Der Paradigmenwechsel der Medizin: Vom natürlichen zum künstlichen Menschen

Damit komme ich zum Kernpunkt: Hinter all dem steht ein großes „Projekt“, das unsere Zukunft prägen wird – und das uns längst ergiffen hat. Es ist die Neugestaltung des Menschen: vom Naturwesen zum Kunstwesen, vom natürlichen zum künstlichen Menschen. Ich setze das Wort „Projekt“ in Anführungszeichnen, weil es zwar wie ein geplantes Vorhaben aussieht, tatsächlich jedoch von unbewussten Kräften getrieben wird, die in der Tiefe unserer Seele wirken.

Es ist die Fortsetzung einer Entwicklung, die die europäische Seele seit den Entdeckungen der Naturwissenschaft antreibt: die Beherrschung der Natur durch den Menschen. Ging es dabei zunächst um die außermenschliche Natur, so kommt inzwischen auch unsere eigene Natur, der Körper und der Geist des Menschen, immer mehr in den Fokus. Es beginnt mit vorbeugen hier und schützen dort, am Ende geht es darum, sich vollkommen von der Natur, zu der unweigerlich das Altwerden und das Sterben gehören, zu „befreien“. Und das bedeutet nichts anderes, als ein von Menschen gemachtes künstliches Wesen zu werden. Da unser Körper das Fachgebiet der Medizin ist, wird sie immer mehr zum Werkzeug und Vorreiter dieses Projektes. Was den Geist (die Psyche) betrifft, leistet die dem medizinisch-technischen Denken folgende akademische Psychologie dabei Hilfsdienste.

Die Medizin hat einen gewaltigen Paradigmenwechsel vollbracht, der noch kaum bemerkt wird: Sie ist von der Behandlung kranker Menschen zur (vorbeugenden) Behandlung von Gesunden, also aller Menschen, übergegangen. Dazu gehören auch Eingriffe bei gesunden Menschen, die nichts mit Krankheitsvorbeugung zu tun haben, sondern einem medial erzeugten Idealbild oder einem persönlichen Wunschbild (das ebenso medial befeuert wird) folgen. Das herausragendste Beispiel dafür ist die versuchte Veränderung des biologischen Geschlechts., die eine lebenslange Abhängigkeit von der Medizin zur Folge hat.

Die Behandlung richtig kranker Menschen tritt demgegenüber immer mehr ins Hintertreffen. Das geschieht zwar auch noch, doch die Ausrichtung der Medizin gilt heute nicht mehr den Kranken, sondern den Gesunden. Krankheit soll in Zukunft nicht behandelt, sondern verhindert werden, und Krankheitserreger aus der Natur gehören „ausgemerzt“, wie es beim Corona-Virus hieß. Jeder Gesunde gilt als potenziell Kranker. Er könnte dies bekommen, er könnte jenes entwickeln. Wahrscheinlich quillen auch deshalb die Arztpraxen alle über und muss man bei Fachärzten lange Wartezeiten in Kauf nehmen.

Das wurde erstmals während der Corona-Pandemie ganz deutlich. Zehn Millionen Kranke? Das ist nichts. Hundert Millionen Kranke? Auch das ist vergleichsweise wenig. Aber acht Milliarden Gesunde – das ist das Geschäftsfeld. Als ich die Aussage von Bill Gates las, die Impfung müsse „in jede Ecke der Welt“ gebracht werden, war mir plötzlich klar, wohin die Reise geht: Jeder Gesunde ist ein potenzieller Patient. Und bei dem „potentiell“ soll es nicht bleiben, jeder muss ein richtiger Patient werden. Damit haben wir ein riesiges, nie zu sättigendes Anlagefeld für das Kapital. Die Medizin ist die Industrie, die dieses Feld bedient und zugleich immer weiter erschließt.

Damit das alles so richtig gefährlich aussieht und es jeder glaubt, wird getestet und getestet und werden indirekte Krankheitsindikatoren aus Laborergebnissen in den Status behandlungsbedürftiger Krankheiten erhoben, ohne dass es tatsächliche Krankheitssymptome gibt. Das ist selten so offensichtlich wie bei Corona, wo ein positiver Test als Krankheit galt, auch wenn der Mensch keinerlei Symptome hatte (was bei etwa der Hälfte aller positiv Getesteten der Fall war), sondern – still und heimlich – bei immer mehr Diagnosen. So gilt man, dies ist nur ein Beispiel, als Alzheimer-Kranker, wenn bestimmte Biomarker darauf hinweisen, dass die Krankheit irgendwann einmal ausbrechen könnte, auch wenn dies noch viele Jahre dauern oder gar nicht eintreffen mag. Nochmals: Man gilt dann als krank, obwohl man gesund ist.5 Darauf baut dann eine „vorbeugende“ Behandlung auf.

Ähnlich verhält es sich mit dem Alter. Jeder junge Mensch könnte einmal alt werden. Wie bei der Rente muss die Vorsorge also schon mit 30 Jahren anfangen: Man soll frühzeitig dem Altern vorbeugen. Genau das bedeutet „Anti-Aging“ – ein Programm gegen das Altwerden selbst. Auch wenn dies auf der Website der Anti-Aging-Gesellschaft verneint wird – der Name ist eindeutig und sagt alles. Das gleiche gilt für Krankheiten: Jeder könnte potenziell erkranken, die Liste möglicher Diagnosen wächst beständig, und die kritischen Werte bei Messungen werden immer weiter heruntergesetzt, etwa beim Blutdruck oder bei Cholesterin, sodass man plötzlich über Nacht weltweit bis an die hundert Millionen „Kranke“ mehr hat, die gar nicht wirklich krank sind, es aufgrund der Blutwerte o.ä. jedoch werden könnten.

Man stelle sich vor, welches Geschäft darin liegt. Da meldet sich in mir der alte Marxist zurück, der ich in jungen Jahren einmal war. Er erkennt die Logik der Kapitalverwertung: Wenn jeder bereits ein Auto hat, wenn jede Familie zwei oder drei Fahrzeuge besitzt, wenn die Straßen verstopft sind – wo soll weiteres Wachstum herkommen? Mehr als zwei Kühlschränke braucht niemand, mehr als drei Fernseher auch nicht. Früher hatte man einen, heute mehrere, doch irgendwann tritt Sättigung ein.

In den reichen Ländern ist dieser Punkt längst erreicht. Dann bleiben nur noch Kriege, damit etwas zerstört wird, um es anschließend wieder aufzubauen – und so ein neues Anlagefeld für Kapital zu haben. Doch inzwischen hat sich ein viel lukrativeres Feld aufgetan: der Körper und das Innere des Menschen. Dort gibt es noch längst keine Sättigung. Das ist wie Afrika vor einigen hundert Jahren: wilde Natur. Wenn man hier zunächst die nötigen Vorbereitungen trifft und die Menschen glauben macht, es sei besser, dieses oder jenes Organ zu ersetzen, ehe es zu schwächeln beginnt, oder sich gegen jeden potentiellen „Feind“ zu schützen, lassen sich unendlich viele „Kühlschränke“ verkaufen.

Es gibt noch unendlich viele Keime, Bakterien, Viren und anderes Böse in der Natur draußen zu entdecken, vor dem man „geschützt“ und das „ausgerottet“ werden muss, oder im Körper, was nicht so gut funktioniert und optimiert werden kann. Organe lassen sich ersetzen, Funktionen optimieren, Impfungen zur Pflicht machen, Körperteile der jeweiligen Mode anpassen und neu konstruieren, die (äußeren und inneren) Geschlechtsorgane und der Hormonhaushalt werden verändert, selbst Eingriffe ins Genom stehen jetzt schon auf der Tagesordnung, und auch der Geist wird erfasst – das Gehirn haben wir zwar teilweise schon ausgelagert (KI), es lässt sich aber sicherlich auch in unseren Köpfen noch optimieren, vielleicht mit Chips, operativen Techniken, Schittstellen zwischen Mensch und Computer – wer weiß, was Wissenschaft, Technik und Medizin noch alles mit dem Menschen anstellen werden, von einer möglicherweise autonom werdenden Künstlichen Intelligenz ganz zu schweigen. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos – wir sind noch nicht einmal richtig am Anfang.

Hinzu kommt die ständige Selbstvermessung: Uhren, die Schritte zählen, den Puls messen, den Blutdruck überwachen. Und sobald ein Wert außerhalb der Norm liegt, folgt die Botschaft: Du musst etwas tun, ein Medikament nehmen, ein Programm starten. Möglicherweise muss man in Zukunft – außer die entsprechenden Befehle („Empfehlungen“) auszuführen – noch nicht einmal selbst etwas tun, sondern überlässt dies einem von Künstlicher Intelligenz gesteuerten Gesundheits- oder Fitnessprogramm, dass dies dann – ähnlich wie beim „Upgrade“ des Computers – automatisch erledigt. Hier eröffnet sich ein gigantisches Geschäftsfeld. Hinter diesen gesellschaftlichen Tendenzen steht die Wissenschaft als treibende Kraft. Sie zeigt uns, was alles schiefgehen könnte – und was man tun müsse, um es zu verhindern: neue Medikamente, neue technische Geräte, neueste Anti-Aging-Produkte.

Alter und Bewusstsein – Der Körper schrumpft, der Geist wird weiter

Der letzte und wohl schmerzlichste Punkt ist jedoch: All das steckt längst in uns selbst. Dieses Denken haben wir tief verinnerlicht. Wir glauben, nicht alt werden zu dürfen. Altern gilt als Fehler, als Versagen. Unser Maßstab ist die Jugend – sie dient als Fixpunkt. Und wenn Jugend der Maßstab ist, dann wird das Altwerden automatisch zur Krankheit.

So entsteht das Gefühl: Altwerden ist „schlecht“, man muss etwas dagegen tun. Die entscheidende Frage lautet: Habe ich diesem Denken nicht selbst längst die Tür geöffnet? Indem ich erwarte, mit 60 noch so zu funktionieren wie mit 30 oder 40? Indem ich jede Einschränkung als Makel deute?

Es ist leicht, die Pharmaindustrie zu kritisieren. Schwieriger ist es, ehrlich auf sich selbst zu schauen und zu fragen: Bin ich bereit, alt zu werden? Bin ich bereit, den natürlichen Prozess wirklich zu akzeptieren – nicht nur widerwillig, sondern als Teil des Lebens?

Das bedeutet auch, kleine Einschränkungen anzunehmen: etwa, dass ich den Golfball nur noch 160 Meter statt wie früher 200 Meter weit schlagen kann. Der Golfball ist dabei nur ein Symbol. Jeder von uns hat seinen eigenen „Golfball“. Wenn ich mir das radikal vor Augen führe, dann wird deutlich, dass ein inneres Umdrehen notwendig ist – es sei denn, ich gehe den Weg in die totale Künstlichkeit mit. Das ist allerdings, ich habe es in dem schon erwähnten Buch „Im Namen des Fortschritts“ näher ausgeführt, der Weg in den Tod. Denn alles Künstliche ist tot. Wir werden dann wandelnde Tote – Homunculi oder die untoten Toten aus Draculas Welt.

Wir alle neigen dazu, im Blick auf das Alter vor allem wahrzunehmen, was nicht mehr oder allenfalls noch leidlich funktioniert. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf das, was wir verlieren – nicht auf das, was wir gewinnen. Das hängt damit zusammen, dass wir – auch in Kreisen wie diesen, in denen wir uns hier begegnen – mehr oder weniger stark mit unserem Körper identifiziert sind. Das ist der materialistische Geist, in den die Aufklärung und die Wissenschaft uns geführt haben und in dem wir alle leben.6 Und der Körper baut nun einmal ab. Solange ich in dieser Identifikation drinstecke, bedeutet Älterwerden notwendigerweise Verlust. Der letzte Verlust ist dann der des eigenen Lebens. Solange ich im Körperlichen verhaftet bin, bleibt auch die Vorstellung bestehen, jung bleiben zu müssen. Und selbst wenn ich diesen Gedanken nicht bewusst denke, erlebe ich das Alter dennoch als Abbau und Mangel – und übersehe damit, was es mir schenkt.

Erst wenn ich mich innerlich umdrehe, kann ich dem Alter mit offenen Armen entgegentreten und sehen, was es mir bringt. Dazu braucht es die Hinwendung von der körperlichen zur geistigen Ebene. Denn körperlich bringt das Alter unweigerlich ein Weniger – geistig jedoch eröffnet es eine ungeheure Weite und eine ebenso große Tiefe. Die eigentliche Vorsorge bestünde darin, sich – ich möchte sagen, beginnend schon mit dem Eintritt in den mittleren Lebensabschnitt – bewusst auf das Geistige auszurichten und einzulassen, was dort an Schönem und Wertvollem auf uns zukommt. Dazu bedarf es einer tiefen Umpolung unseres Denkens und unserer gesamten Lebenshaltung einschließlich einer anderen Haltung zum Tod – ein eigenes Thema, auf das ich später eingehen werde.

Ich selbst habe diesen Schritt zwar schon mit Anfang dreißig begonnen, aber das war mehr oder weniger im Kopf. Die östliche Spiritualität, der ich mich damals zugewandt habe, erreicht uns Westler nur sehr schwer in der Tiefe, unsere Seele fühlt und denkt nach wie vor christlich-materialistisch. Man kann dies unter anderem an der Entwicklung sehen, die altindische Traditionen wie Yoga und Tantra oder auch das aus dem Buddhismus kommende Thema „Achtsamkeit“ im Westen genommen haben – es sind Fitness-, Wellness-, Sex- oder Empfindsamkeits-Trainings, die mit ihren spirituellen Ursprüngen nichts mehr zu tun haben. Meine Meditationspraxis und mein tiefes Eintauchen in die Botschaft Oshos (dem ich noch persönlich begegnen durfte) und anderer spiritueller Lehrer waren aber wohl eine gute Vorsorge, die mich auf das vorbereitet hat, dem ich mich heute stellen muss.

Wie ich eingangs sagte, mussten die massiven Einschränkungen durch Corona und dann auch noch eine schwere Erkrankung mich treffen, bevor mir dies richtig klar wurde. Unser kulturelles Kondom, dass uns wie eine zweite, undurchdringliche Haut umgibt, muss reißen, damit die Wirklichkeit in uns eindringen, uns im Innern erreichen und dann von dort aus auch wandeln kann. Ich musste die Siebzig überschreiten, ehe sich allmählich eine neue Sichtweise entwickeln konnte. Es ist aber egal, wann man diesen Schritt macht – Hauptsache man macht ihn.

Dabei erinnere ich mich an einen alten Freund, der Ende der neunziger Jahre bei mir das Familienstellen gelernt hat. Er ist Arzt und Psychotherapeut und wollte vor rund zwanzig Jahren eine „Pro-Aging“-Bewegung ins Leben rufen. Gemeinsam mit einigen anderen Ärzten versuchte er, dem Altern eine bejahende Haltung entgegenzusetzen. Ich habe ihn vor einem halben Jahr wieder getroffen – er ist inzwischen 84 und immer noch voll berufstätig. Das „Pro-Aging“-Projekt scheiterte. Niemand wollte davon etwas wissen. Für das Alter zu sein ist nicht sexy. Und doch verweist diese Initiative genau auf das, worum es eigentlich geht: sich der Wahrheit und Wirklichkeit des Lebens zu stellen und zu beugen, statt zu versuchen, ihr zu entfliehen.

Damit möchte ich für den Moment schließen. Wir machen jetzt eine Pause und schauen anschließend gemeinsam, wie ihr selbst vielleicht der Wahrheit ausweicht – oder ob ihr bereit seid, ihr entgegenzugehen. Diese Frage betrifft nicht allein die Älteren unter uns. Denn in gewisser Weise geht es hier um eine andere Art von Vorsorge, die uns alle angeht: Erkenne, was das Leben ist und wer du selbst bist.

1 Siehe dazu mein schon 2020, also zu Beginn der „Pandemie“, geschriebenes Buch „Also sprach Corona. Die Psychologie einer geistigen Pandemie“, München 2021 (Scorpio).
2
Siehe dazu mein Buch: Im Namen des Fortschritts. Das moderne Bewusstsein und der Krieg gegen die Natur. Nettersheim 2023 (Innenansichten Verlag).
3
Malte Nelles, Gottes Umzug ins Ich. Eine Tiefenpschologie des modernen Menschen. München 2023 (Europa Verlag).
4
Bernd Kleine-Gunk und Stefan Lorenz Sorgner, Homo ex Machina. Der Mensch von morgen. Chancen und Risiken des Transhumanismus. München 2023 (Goldmann).
5
https://www.infosperber.ch/gesundheit/alzheimer-bluttests-nicht-reif-fuer-den-breiten-einsatz/

Veröffentlicht am 15.09.2025

Alt werden und alt sein – Verlust oder Gewinn?