Wenn der Stein plumpst

Wenn der Stein plumpst

Fragen über «phänomenologische Aufstellungsarbeit» an Wilfried Nelles,
gestellt von Sonja Inauen, Schweiz

Sonja Inauen:
Systemisches Aufstellen und phänomenologisches Aufstellen sind zwei verwandte Methoden, die oft in der systemischen Therapie und Beratung verwendet werden, aber sie unterscheiden sich in ihrem Fokus und ihrer Herangehensweise. Wo siehst du den Unterschied?

Wilfried Nelles:
Die systemische und die phänomenologische Haltung sind nicht verwandt, sondern gegensätzlich. Dass sie unter «systemischen» Aufstellern als ähnlich oder einander ergänzend angesehen werden, ist das Resultat eines völlig verkürzten Verständnisses der Grundlagen beider Ansätze.

Die systemische Therapie folgt grundsätzlich einem konstruktivistischen Weltverständnis und einem dem entsprechenden Erkenntnisansatz. Ganz kurz gesagt nimmt sie an, dass die Welt in unserem Geist konstruiert wird. In ihrer radikalen Variante leugnet sie die Existenz einer objektiven Wirklichkeit. Ebenso gibt es für sie keine Wahrheit, sondern nur subjektive, im Grunde beliebige Wirklichkeitskonstruktionen.

Für die Therapie bedeutet dies, dass sie immer vom Ich des Klienten ausgeht und es darum geht, eine für die Ich-Bedürfnisse des Klienten befriedigende Konstruktion zu finden. Wenn es um Gruppen, z.B. eine Familie, geht, wird versucht, aus den Einzelinteressen eine gemeinsame Lösung zu konstruieren, mit der alle leben können.

Ganz deutlich zeigt sich das systemische Verständnis z.B. in der Gendertheorie. Das Geschlecht ist demnach keine uns vorgegebene Tatsache, sondern kann subjektiv konstruiert werden: «Ich bin das, was ich sein will.»

Tatsächlich ist jedoch der Ausgangspunkt des Konstruktivismus, das «Ich», eine Konstruktion. In der Wirklichkeit gibt es das nicht. Dasselbe gilt für das «System», es ist ein mentales Konstrukt, das helfen soll, die Wirklichkeit, die es nicht gibt, zu verstehen. Das ist eine technische Betrachtung der Welt, die dort, wo es um technische Dinge geht, sicher sehr nützlich ist, aber mit dem Lebendigen, mit dem Geist und der Seele, nichts zu tun hat. Bert Hellinger hat dazu gelegentlich eine ironische Geschichte erzählt: Ein Rettungstrupp findet einen verirrten Bergwanderer, der sich mit den Worten bedankt: «Gott sei Dank habt ihr mich erfunden.»

Im Gegensatz dazu geht die phänomenologische Haltung von einer uns vorgegebenen Wirklichkeit ebenso wie von einer objektiven Wahrheit aus, ohne dass diese letztlich zu erkennen ist. Sie zeigt sich in den Erscheinungen der Welt, und zwar in jedem Augenblick, ohne dass man sie festhalten könnte. Alles, was erscheint, ist wahr.

In der phänomenologischen Haltung setzt man sich dem momentanen Erscheinen der Wirklichkeit aus. Das Ich muss dabei ganz zurücktreten und sich dem, was erscheint, unterwerfen. «Ich» gehe innerlich in den Raum eines unbeteiligten Zuschauers, eines Zeugen dessen, was geschieht und durch mich durchfließt, inklusive meiner Gedanken und Gefühle.

Das ist genau das, was man in einer Rolle als Stellvertreter in einer Aufstellung «tut» – nämlich nicht mehr und nicht weniger, als als «Ich» beiseite zu treten und alles, was durch einen durchfließt, geschehen zu lassen. Genau dies ist die Haltung eines phänomenologisch arbeitenden Therapeuten und die phänomenologische Bewusstseinshaltung generell.

Sonja Inauen:
Nahezu in jeder Aufstellung gibt es einen Moment, in dem der Stein plumpst und die Zeit wie stillsteht, ein Moment höchsten Da-Seins. Es ist der Moment der Wahrheit, der unverfälschten Erkenntnis, wo ein Vakuum entsteht und ein Neubeginn möglich ist. Was geschieht deiner Meinung nach bei einer Aufstellung, um bei meinen Worten zu bleiben, wenn «der Stein plumpst»? Kannst du diesen Moment beschreiben?

Wilfried Nelles:
Das Plumpsen eines Steins ist eine Wahrnehmung von außen, ein plötzliches Erkennen. Wenn man die phänomenologische Haltung verinnerlicht hat, plumpsen keine Steine mehr. Alles ist ein ständiges Fließen, ganz leicht und selbstverständlich. Man schwimmt einfach mit im Fluss dessen, was erscheint, und lässt sich tragen.

Sonja Inauen:
Wie sieht es in deiner Praxis aus, beobachtest du mehr solche Erkenntnismomente gleich während der Aufstellungsarbeit oder mehr danach?

Wilfried Nelles:
Ich bin ganz im Moment. Danach ist ein neuer Moment. Ich halte weder etwas fest noch denke ich darüber nach.

Sonja Inauen:
Denkst du, dass solche Erkenntnisse für jeden zugänglich sind? Gibt es da Unterschiede?

Wilfried Nelles:
Grundsätzlich kann das jeder, ebenso wie jeder ein Stellvertreter in einer Aufstellung sein kann. Man muss aber in der Lage sein, in eine vollkommen offene, empfängliche Haltung zu gehen, etwa wie eine leere Leinwand. Das erfordert zunächst viel Mut, etwa den Mut, alle Kontrolle aufzugeben. Auch die Bereitschaft, seine eigenen Meinungen und Glaubenssysteme zerbrechen zu lassen. Wie gesagt: Es ist dieselbe Haltung wie in der Rolle als Stellvertreter in einer Aufstellung, auch dieselbe Haltung wie in der absichtslosen Meditation.

Der große Unterschied ist: Als Stellvertreter in einer Aufstellung ist dies einfach, weil hier der Kursleiter die Verantwortung übernimmt und es nicht um das eigene Leben geht, sondern man «nur in einer Rolle ist». Im Leben und als Therapeut ist dies anders, da steht niemand hinter dir und sagt «Lass einfach geschehen, was geschieht». Aber die Stellvertreterrollen sind, wenn man versteht, was da passiert, ein exzellentes Lernfeld.

Sonja Inauen:
Ist es deiner Meinung nach entscheidend, auf welcher Lebensstufe man steht, um solche Erkenntnisse zu erlangen?

Wilfried Nelles:
Die phänomenologische Haltung beginnt mit der Erkenntnis, dass ich mein Leben nicht machen kann, sondern dass es – ebenso wie alles, was existiert – einfach aus sich heraus geschieht. Alles ist nichts als ein Ausdruck des Geistes, der sich in den Erscheinungen der Welt zeigt, selbst aber unerkennbar bleibt. In meinem Modell ist das die vierte Bewusstseinsstufe – nicht die vierte Lebensstufe, man kann auch als Erwachsener im Bewusstsein ein Kind oder Jugendlicher bleiben, das ist sogar das Übliche. In den folgenden Stufen wird diese Haltung zur Selbstverständlichkeit.

Sonja Inauen:
Wie wirken sich solche plötzlichen Einsichten auf das Leben und die Beziehungen der betroffenen Person aus?

Wilfried Nelles:
Alles wird leichter. Je tiefer man erkennt, dass das Leben (auch das eigene Handeln) aus sich heraus geschieht, umso entspannter wird man. Alle Anspannung, aller Stress ist eine Folge der modernen Idee, sein Leben «machen» und kontrollieren zu können oder gar zu müssen.

Aber, wie gesagt, es geht nicht um plötzliche Einsichten, die stehen nur am Anfang, sondern um eine Lebenshaltung, ein anderes Bewusstsein. Anfangs gibt es natürlich viele Zweifel, weil vieles anders ist, als man es bisher angenommen hat, und man in seinem Umfeld damit auf Unverständnis stößt. Wer es einmal erlebt hat, kann allerdings nicht mehr zurück.

Sonja Inauen:
Sind solche in einer Aufstellung gewonnen Erkenntnisse nachhaltig?

Wilfried Nelles:
Die Wahrheit ist immer nachhaltig.

Sonja Inauen:
Wie wichtig ist ein unterstützendes Umfeld, sowohl in einer Aufstellung als auch in einem Beratungsgespräch, um diese Erkenntnisse zu verarbeiten?

Wilfried Nelles:
Es gibt nichts zu «verarbeiten». Wer von der Wahrheit gestreift wird, hat keine Wahl mehr. Die anderen haben zwar auch keine Wahl, sie wissen es aber nicht. Damit sich diese Haltung integriert (was auch von selbst geschieht), ist es natürlich günstig, wenn die Menschen um einen herum dies ähnlich sehen. Aber auch das ergibt sich. Z.B. versteht ein Außenstehender nicht, dass die Stellvertreter in einer Aufstellung die Gefühle und sogar Gedanken ihnen unbekannter Personen repräsentieren können. Wenn man das mehrmals erlebt hat, wird es für einen selbst selbstverständlich.

Sonja Inauen:
Was würdest du jemandem empfehlen, der Schwierigkeiten hat, Erkenntnisse zuzulassen oder zu akzeptieren, die während der Aufstellung oder danach auftreten können?

Wilfried Nelles:
Nichts. Entweder er ist offen dafür oder nicht. Letzteres ist voll und ganz zu akzeptieren.

 

Veröffentlicht am 17.03.2025

 

 

 

 

 

 

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